II. Orthodoxie und Pietismus.

Es ist eine vor allem in der Vorgeschichte des Pietismus viel erörterte Frage, wie die vielen Klagen über die gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnisse im Zeitalter der Orthodoxie zu erklären sind. H. Leube hat vor einiger Zeit darauf hingewiesen, daß ganz bestimmte religiöse Überzeugungen die Anklagen vermehrt und verschärft haben. Nun macht A. Schleiff die Anklageliteratur erneut zum Gegenstand der Untersuchung < 2499>. Richtig sind von ihm vier verschiedene Richtungen auseinandergehalten: die orthodoxlutherische, die synkretistische der Helmstedter, die pansophische und die spiritualistische. Die beiden letzten sind durch die Forschungen von W. E. Peuckert und E. Seeberg, die andern beiden durch die Arbeiten von H. Leube und O. Ritschl bekanntgeworden. Gerade diese Untersuchungen zeigen, daß die Anklageliteratur meist schon im 16. Jh. vorhanden war. In der folgenden Zeit ist nun die Steigerung der Kritik nach Grad und Zahl zu beobachten. Schl. breitet das Material aus und nimmt es als gegeben hin; außerdem ordnet er das Material und läßt auch das Positiv-Aufbauende dieser Kritik zur Geltung kommen. --Kersten-Thiele gibt ein Bild von dem historisch-wissenschaftlichen Schaffen V. E. Löschers, des letzten großen Vertreters der altlutherischen Orthodoxie < 130>. Darin, daß nun endlich nicht bloß die dogmatischen Kämpfe jener Zeit behandelt werden, gewinnt diese Arbeit ihre hohe Bedeutung und fordert zur Nacheiferung auf. Man kannte bisher Löschers Reformationsacta und vielleicht noch die Historie der mittleren Zeiten; K.-Th. zeigt, daß L.s historische Arbeiten fast alle großen Sachgebiete erfassen, und begnügt sich nicht, die äußeren Merkmale dieser Geschichtsschreibung anzugeben, sondern sucht zugleich ihre theologische Bestimmtheit aufzuhellen: Die theologische Geschichtsschau L.s ist das große Wagnis, wider allen Augenschein in der Geschichte im Glauben die Wege der Menschen und damit die Bewegungen der Realgeschichte als Gottesgeschichte zu fassen, als Gänge Gottes durch die Geschichte und als Willenskundgebungen an seine Geschöpfe. -- Einen weiten Leserkreis möchte man dem anschaulichen Lebensbild Speners wünschen, das H. Bruns entworfen hat < 2501>. Gewiß ist es ein »praktisches« Buch: es betont die Notwendigkeit der pietistischen Frömmigkeit für die ev. Kirche der Gegenwart. Insofern seien Speners Forderungen: Erweckung und Gemeinschaftspflege durch Predigt, Unterricht und Seelsorge, nicht überholt. Aber die Ausrichtung eigener Wünsche zum Neubau der deutschen ev. Kirche auf eine bestimmte Persönlichkeit hat keineswegs zu ihrer unhistorischen Idealisierung geführt. Denn B. verschweigt nicht ihre Mängel: Fehlen des Familiensinnes, die falsche Askese in Verkehr und Geselligkeit u. a. -- Besondere Anerkennung verdient die Bengelbiographie, die K. Hermann unter Mitwirkung anderer württembergischer Theologen zum 250. Geburtstag dieses großen Führers ihrer Landeskirche geschrieben hat < 2502>. Bengels Gestalt ersteht aus einer Familiengeschichte, die ganz nach modernen Grundsätzen geschrieben ist, im großen Zusammenhang der württembergischen Landesgeschichte und der allgemein kirchlichpietistischen Periode. Man gewinnt einen Einblick in den Bildungsgang der damaligen Theologen, man hört von der Auseinandersetzung mit Zinzendorf und dem Halleschen Pietismus, man verfolgt die Hingabe an die apokalyptische Idee u. a. Leider fehlen die letzten in Herbrechtingen und Stuttgart verbrachten Jahre. -- Der Verein für Brüdergeschichte in Herrnhut nahm seine Arbeit wieder auf. Wenn auch nicht die 1920 eingegangene Zeitschrift für Brüdergeschichte wieder erscheinen wird, sollen doch durch eine Schriftenreihe Abhandlungen zur Geschichte


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der Brüder herausgebracht werden. Das 1. Heft bringt zwei Arbeiten < 2521>. Fr. Schwencker bietet wertvolles Material zur Gründung der schlesischen Gemeinden, die Friedrich dem Großen viel verdanken, und B. H. Zimmermann schildert, wie sehr sich seit der Reformationszeit das Geschlecht von Zinzendorf für den ev. Glauben einsetzte. Es ist der Ausschnitt einer Familiengeschichte, der Großes bringt. -- S. Hirzels Buch (Der Graf und die Brüder. Leipzig, Klotz < 2504>) hat sich auch in der 2. Auflage seinen Charakter erhalten. Es ist ein Buch, das den geschichtlichen Stoff ohne wissenschaftliches Beiwerk, aber mit unerbittlichem Wahrheitssinn und in einem gepflegten Stil nahebringt. In dieser fein abwägenden Darstellung, die Licht und Schatten gerecht verteilt, ist alles menschlich faßbar und greifbar, so daß sie stark wirken muß. -- S. Eberhards Arbeit < 2503> ist ein historischer Beitrag zur Besinnung auf die reformatorische Theologie in unserer Zeit. Daß die lutherische Kreuzestheologie auch Zinzendorfs Glaubenshaltung bestimmt hat, wird niemand in Abrede stellen. Aber diese Auffassung wird in der Einseitigkeit und Schroffheit, mit der sie hier vertreten wird, berechtigte Bedenken auslösen. So einheitlich und eindeutig, wie es E. meint, liegen die Dinge bei Zinzendorf doch nicht. Man denke bloß an Uttendörfers und Bettermanns Arbeiten. -- Auf die kleine Schrift von H. Renkewitz, Die Brüdergemeine und das Bekenntnis (Herrnhut, Missionsbuchh., 14 S.), sei noch hingewiesen, da sie die Idee Herrnhuts: Zeugenschaft für Christus abzulegen, darstellt und von da aus die Bekenntnisfrage aufrollt.


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