IV. Das letzte Jahrhundert.

Die überraschend große Zahl von Arbeiten erklärt sich keineswegs aus der Erörterung bestimmter Einzelfragen. Vielmehr ist


S.407

durch den politischen Neuanfang in Deutschland die vorhergehende Zeit historisch und damit reif für die Geschichtsforschung geworden. Zunächst schildert Fr. Schnabel für die 1. Hälfte unseres Zeitraumes die Lage des deutschen Protestantismus < 1060>. Er hat darin keinen rechten Vorläufer. Denn Sell, R. Seeberg, Tischhauser geben nur Ausschnitte, und das Werk des Katholiken Kissling gehört zur Polemik. Drei Stücke scheinen mir besonders gelungen zu sein. Sch. schildert das Fortleben der Aufklärungsideen im 19. Jh.; er weist die Grenzen des Pietismus nach und zeigt die protestantische Kultur der preußischen Erhebung. Jedoch kann auch er sich von dem alten Bild des destruktiven Protestantismus nicht freimachen. Den religiösen Liberalismus, den Sch. schildert, hat inzwischen W. Nigg dargestellt, und zwar von seiner Vorstufe an im Reformationszeitalter < 2505>. Das Buch ist als Apologie geschrieben. Es will keine Theologiegeschichte; denn es bringt viel Berichte, z. B. über den Protestantenverein, die Freireligiösen Gemeinden, den Apostolikumstreit. Aber es hätten eben liberale Theologie und religiöser Liberalismus in ihrem wechselseitigen Verhältnis erfaßt werden müssen, ganz abgesehen von der Verbindung zwischen politischem und religiösem Liberalismus. Dazu hätte es auch der klaren Bestimmung des Begriffes Liberalismus bedurft. -- Zur Geschichte des sozialen Protestantismus liegen große Werke vor. Zunächst kam das große Werk Die Innere Mission von Fr. Mahling zum Abschluß (2 Bde., Gütersloh, Bertelsmann 1935--37). Es ist eine Geschichte der I. M. von Wichern an bis etwa zum Betheler Kirchentag, dessen soziale Botschaft tiefen Eindruck hinterließ. Leider hat der Tod M.s die Abrundung des Werkes verhindert. Deshalb fehlt auch die große geschichtliche Linie. Man liest es wie einen Rechenschaftsbericht, der alle Einzelheiten aufzählt, und so erreicht es fast urkundlichen Wert. Daneben hat M. Gerhardt seine Fliednerbiographie vollendet < 2507>. Der 2. Bd. bringt nun erst das Werk, das Fliedners Namen unvergänglich in die Geschichte des deutschen Krankenwesens eingetragen hat: die Gründung der Kaiserswerther Anstalt. Das erste ev. Krankenhaus ist als Ausbildungsstätte für Krankenpflegerinnen gedacht. Bezeichnend ist, daß Fliedners Gründung von den ersten Anfängen an jedem unterschiedslos geholfen hat, obwohl er doch selbst literarisch oft und hart gegen den Katholizismus gekämpft hat. Schließlich hat Th. Heuß das Leben seines Freundes Fr. Naumann geschildert < 1210>. Damit hat, nach den biographischen Werken von Wichern und Stoecker, nun auch der dritte große Führer des deutschen sozialen Protestantismus die verdiente Würdigung gefunden. Freilich rückt H. den politischen und nationalen Schriftsteller in den Mittelpunkt, um so N.s Anteil am innen- und außenpolitischen Geschehen Deutschlands zu zeigen, während seine religiöse Seite zurücktritt. Doch gerade diese wenigen Stücke gewähren durch den herangezogenen Briefwechsel neue Einblicke in die religiöse Entwicklung N.s. -- Über Stoecker liegt neben der Arbeit von W. Wendland, die die kirchenpolitischen Kämpfe um St. behandelt und die ungeheuren Schwierigkeiten seines Wirkens zeigt < 2508>, noch die Dissertation von D. von Walter vor < 2509>. Danach kämpfte St. gegen die Staatskirche und die Freikirche. Sein Ideal war die freie Volkskirche. Dieses Ideal ist begründet in seinem Kampf gegen den Liberalismus, der die Grenzen der Kirche aufhob, und gegen die pietistische Verengung des Kirchlichen. -- In die Konfessionsgeschichte führen zwei kleine Arbeiten ein. H. Martin schildert in klarer Stellungnahme den Kampf der deutschen lutherischen Freikirchen um ihr Bekenntnis gegen die Unionstendenzen der politischen Gewalten < 2506>. Es

S.408

handelt sich um die Altlutheraner Preußens und die hessische Renitenz. Neue geschichtliche Momente vermag er den oft behandelten Vorfällen nicht abzugewinnen. M. will ja überhaupt damit gegen das Staatskirchentum Stellung nehmen und der Gruppe im Kirchenkampf dienen, der er selbst angehört. Dagegen stellt E. Hannay aus den Anfängen der konservativen Bewegung den Kampf um eine deutsche christliche Kirche dar, die die überkommenen Konfessionen vereinigen sollte < 2625>. Man muß einmal die Tatsache klar ins Auge fassen, daß stärkste geistige Kräfte am Anfang des 19. Jh.'s auf eine Kircheneinigung hindrängten: Aufklärung, Romantik, Erweckung und nationale Erhebung. Selbst im Katholizismus regten sich Einigungstendenzen. Man denke, daß selbst J. Görres bis 1819 die höhere Einheit zwischen Katholizismus und Protestantismus sah. Es ist interessant, bei H. nachzulesen, wie führende konservative Politiker zu dieser kirchlichen Idee standen. Jedenfalls der Kölner Kirchenstreit begrub alle Hoffnungen. Die protestantischen Konservativen stellen sich vor den angegriffenen Staat, der sich damit sein in der Geschichte gewonnenes protestantisches Gepräge erhielt. -- Erfüllt von neuen religiösen und kirchlichen Wünschen ist P. Erfurths Buch, das eigentlich den Untertitel Beitrag zur Bildung der neuen ev. Kirche mit dem nichtssagenden Haupttitel vertauschen müßte < 2296>. Sein Anliegen ist, der germanisch-arteigenen Auffassung des Christentums in der deutschen ev. Kirche zum Sieg zu verhelfen. Aber den Weg, den er einschlägt, wird mancher Leser nicht bis zum Ende mitgehen können. Dazu ist das herangezogene historische Material zu unterschiedlich. Primäre Quellen aus den einzelnen Perioden der deutschen Kirchengeschichte und Abhandlungen über diesen oder jenen Gegenstand werden mit einer scheinbar bibliographischen Zufälligkeit und wissenschaftlichen Unbekümmertheit seitenlang zitiert. Wertvolles und Bleibendes steht neben Unrichtigem und Abgelehntem. Anderes hätte nicht übergangen werden dürfen, so R. Seebergs grundlegende Erörterungen über die Germanisierung des Christentums, so sehr man auch den Hinweis auf Jos. Bachs Dogmengeschichte des MA.'s begrüßt, in der bereits über die populäre Theologie bei den Angelsachsen, Sachsen und Franken auf Grund des Cädmon, Otfried u. a. gehandelt wird. Aber aus diesen freilich sehr unterschiedlichen Ausführungen spricht überall die Liebe zur deutschen ev. Kirche, die dem Arteigenen, das er wiederum nicht systematisch bestimmt, nachgeben soll. So gelten z. B. die neueren Fassungen der Apokatastasislehre als Ausdruck germanischer Sippensolidarität, und Calvin wird als französischer Jurist abgetan. -- Zur Geschichte des kirchlichen Vereinswesens liegt die Festschrift des Ev. Bundes für Nassau und Hessen vor, in der in vorbildlicher Form Aufsätze aus der Geschichte dieser Gruppe mit Arbeiten allgemeinkirchengeschichtlichen Inhalts vereinigt sind < 2532>. Das Wollen des Bundes in Vergangenheit und Gegenwart tritt klar hervor. Jedenfalls bestätigen gerade diese Arbeiten zur neueren Kirchengeschichte den Eindruck, den dieser Literaturbericht an vielen Stellen vermittelt hat. Die deutsche protestantische kirchengeschichtliche Wissenschaft hat die Aufgaben erkannt, die ihr der geistige Umbruch in Deutschland stellt, und arbeitet an ihrer Lösung. Wo aber Erkenntnis und Wille des Historikers Vergangenheit und Gegenwart erfassen, da treibt man lebendige Wissenschaft.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)