III. Deutsche Bewegung.

Einen neuen, geistvollen Gesamtüberblick über die Entwicklung des Nationalgedankens von Rousseau bis Ranke bietet das aus einer Vorlesung hervorgegangene Buch O. Voßlers < 2636>. Sehr flüssig geschrieben und von Anmerkungen unbelastet, reiht es Studien über einzelne führende Denker aneinander: Rousseau, Burke, Jefferson, Fichte, Humboldt, Mazzini, Hegel und Ranke. Doch ist diese Auswahl nicht zufällig und das damit gezeichnete Bild lückenhaft, sondern die Entwicklung zum Nationalgedanken wird in ganz straffer Systematik verfolgt. Der Verf. führt das politische Denken dieser Männer auf ein Problem zurück, das der Aufklärungsindividualismus nicht zu lösen vermochte, nämlich das Problem des Verhältnisses des Staates zum Einzelnen, allgemeiner ausgedrückt, des Allgemeinen zum Besonderen. Auf diese Grundfrage finden Rousseau, Burke und Fichte verschiedene Lösungen: Rousseau zeigt, daß Freiheit und Sittlichkeit nicht über dem Staate und außerhalb des Staates existieren, sondern in ihm und nur in ihm; Burke bringt in gleicher Weise Vernunft und Geschichte zusammen; Fichte setzt die ganze Menschheit ohne weiteres mit der deutschen Nation gleich, er wandelt auf dem einfachsten Wege den Kosmopolitismus in den Nationalgedanken um. Alle drei Lösungen, die sittliche, die historische Staatsidee und die Idee der Menschheitsnation, verbindet schließlich Hegel durch seine grundlegende Gleichsetzung von Vernunft und Wirklichkeit. Damit überbrückt er endgültig die Kluft zwischen immanentem und transzendentem Denken, zwischen Staat und Geist, »die Kluft des dualistischen Denken selbst«. Hegels Staats- und Nationalgedanke begegnet dann


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bei Ranke vollständig und verfeinert wieder, indem er den geschichtlichen und nationalen Kräften noch größeren Raum gewährt als Hegel.

Wir verdanken Voßlers Buch die einheitliche Konzeption des politischen Denkens einer entscheidenden Epoche. Gewiß wird noch manche Kritik an dieser Überschau geäußert werden; wir verzeichnen vorerst die eingehende Besprechung von K. Larenz (Z. dt. Kulturphilos. 4, S. 102 ff.; viel positiver dagegen U. Noack, Dt. Lit.-Ztg. 59, Sp. 1721--27), in der besonders Voßlers neue Rousseaudeutung angezweifelt wird; wir möchten gegen V. einwenden, daß er gewissermaßen nur die große allgemeineuropäische Diskussion beachtet und die eigentümliche deutsche Linie des werdenden Nationalbewußtseins gar nicht berührt. Die Schöpfer des deutschen Volksgedankens, Möser und Herder, Arndt und Jahn, kommen bei ihm nicht vor. Diese Männer stehen dagegen im Mittelpunkt der kleinen Schrift von G. Fricke < 2639>, der in knappen Strichen und bewußt vereinfachend die stufenweise Entfaltung des Volksbewußtseins, die »Entdeckung des Volkes«, verfolgt und zeigt, wie das Volk erst als Idee, dann als Wert, schließlich als der schöpferische Urgrund alles Daseins erkannt wurde. -- Den ersten Durchbruch des völkischen Gedankens in den preußischen Volksschulreformen von 1807--1819 behandelt mit einem weiten historischen Rückblick ein Aufsatz von Friedrich Meyer < 2633>. Ein weitschichtiges Material aus pädagogischen Schriften, Entwürfen und Gesetzen wird darin zusammengetragen und gezeigt, wie weit bzw. wie wenig der Volksgedanke bei der Schulreform tragender Grund war. Die Reform bekam dann ihrerseits ungeheure und ungeahnte Bedeutung für die Erziehung des Volkes zum Volke. -- Wir weisen schließlich noch auf die kritische Besprechung des Buches von Jolles <1936 S. 410> durch R. Craemer (Dt. Lit.-Ztg. 59, 1938, Sp. 674--78) mit grundsätzlichen, stichwortartigen Leitsätzen über den Nationalbegriff um die Wende des 18. Jh.'s hin.

Der umfangreiche Möseraufsatz von K. Jäntere, Justus Möserin käsitys valtiosta ja historiasta (in: Turun Historiallisen Yhdistyksen Julkaisuja 6, S. 183--277) ist uns leider nur in der knappen deutschen Zusammenfassung: »Justus Mösers Auffassung von dem Staat und von der Geschichte« (ebd. S. 457--464) zugänglich. Er setzt Mösers Denken in Beziehung zur geistigen Bewegung des 18. Jh.'s, besonders auch zur Staats- und Kulturphilosophie der nordischen Länder. -- Die Göttinger Diss. von Reta Schmitz, »Das Problem Volkstum und Dichtung bei Herder« (Berlin, Junker & Dünnhaupt, VIII, 104 S.) bleibt zu sehr an problemgeschichtlichen und geistesgeschichtlichen Erörterungen haften, als daß sie für den Historiker wertvolle Aufschlüsse zu bringen vermöchte. -- Schillers Staatsauffassung legt R. Leroux < 2638> an Hand der »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« dar und zeigt dann, auf die früheren Dramen zurückgreifend, wie dort bereits Schillers politische Ideale in der Anlage vorhanden sind. -- Die Gestalt und das Werk eines unermüdlichen publizistischen Kämpfers gegen die französische Revolution und die separatistischen Tendenzen im Rheinland, Trenk von Tonderns, sind in der zweibändigen Veröffentlichung K. d'Esters der der Vergessenheit entrissen worden <vgl. 1936 S. 177; 1937, 548 S. 209>.

Die wichtigste Monographie des Berichtsjahres, R. Fahrners Arndt-Buch < 2641>, ist nicht die von der Wissenschaft lang ersehnte politische Biographie Arndts, sondern der Versuch einer einheitlichen Deutung seiner Gestalt. Zu diesem Zweck werden fast ausschließlich die Jahre seines politischen Handelns,


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1812--1815, betrachtet und von F. die These verfochten, daß sich in diesen Jahren der entscheidende, verhängnisvolle Umbruch in Arndts Entwicklung vollzogen habe. Durch die tragische politische Notwendigkeit, den »Helden und Lebensgründer« seiner Epoche, den »Staatsschöpfer« Napoleon als Todfeind seines Volkes bekämpfen, mit den alten dynastischen Gewalten aber paktieren zu müssen, wird Arndt gezwungen, die politische Leistung durch »geistiges Opfer« zu erkaufen: aus dem revolutionären Nationalisten und dem freien religiösen Denker wird der »biedere Patriot«. Bereits die Kampfschriften der Befreiungskriege zeigen zahllose Verleugnungen, Verwischungen und Abschwächungen des echten Arndt, von seinen späteren Werken ganz zu schweigen. Sein großer Gegner Napoleon hat ihn innerlich zerbrochen. Obwohl F. in dieser gradlinigen und überaus eindringlichen Darlegung zweifellos das entscheidende Problem der Gestalt Arndts wie der geistigen Tragik der Befreiungskriege überhaupt anpackt, übersteigert er die Bedeutung Napoleons bei weitem und baut damit seine Beweisführung auf Prämissen auf, die historischer Kritik nicht stichhalten (vgl. dazu die Bespr. von W. Mommsen < 2641>). Zugleich unterschätzt er die politische Leistung Arndts und seines Kreises, indem er die von ihm sogenannten »geistigen Opfer« überbetont, und reißt damit einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen politischem Handeln und geistigem Verhalten auf. Sein Werk hat jedoch die Arndtforschung wesentlich weitergeführt und vertieft. -- Die gleiche Epoche in Arndts Leben bildet auch den Rahmen der Arbeit von I. Ibbeken < 2642>, in der die Äußerungen einer religiösen Erneuerung während der nationalen Erhebung der Befreiungskriege zusammengestellt werden. Arndt, Theodor Körner und andere Dichter predigten vom Krieg als einem Kreuzzug für Ehre, geistige und religiöse Freiheit der Nation gegen die französische Aufklärung und gegen die Gewaltherrschaft Napoleons. Sie riefen eine christlichgermanische Bewegung ins Leben, die besonders von Kreisen der Urburschenschaft getragen wurde. Allerdings steigerten sich diese Ideen dort vielfach zu politischer Phantasterei und religiös begründetem Republikanismus.

A. Stoldts quellenkritische Untersuchung über Jahns »Deutsches Volkstum« < 2644> fördert wertvolle Ergebnisse zutage. Eine frühere Fassung des bedeutenden Werkes, das das Gesamtgebiet des deutschen Volkslebens umfassen und deutsches Volksbewußtsein erwecken wollte, ging beim Zusammenbruch von 1806 verloren. Es war jedenfalls weniger aphoristisch angelegt als die zweite Fassung, die 1810 zur Veröffentlichung kam. Einflüsse auf dieses Erzeugnis eines durchaus selbständigen Geistes lassen sich nur wenige feststellen: am stärksten war die Einwirkung der frühen Schriften Arndts, daneben ist noch ein patriotischer Roman »Dya-Na-Sore« von W. Fr. v. Meyern und Luthers deutsche Bibel zu nennen. St. gibt sodann eine eingehende Analyse des »Deutschen Volkstums«. -- Die Anschauungen der »christlich-deutschen Tischgesellschaft«, jenes Berliner Kreises, in dem sich die Führer der ständischen Junkeropposition mit den jungen Romantikern zu kämpferischer Gemeinschaft zusammenfanden, werden von Ph. Eberhard < 2643> dargelegt. Im politischen Denken dieser Junker, Dichter und Philosophen, der Marwitz, Arnim, Kleist und Adam Müller, gingen preußisches Staatsgefühl und romantischer Volksgedanke eine fruchtbare Verbindung miteinander ein. Nach den Jahren gemeinsamen Kampfes trennten sich die Wege der Mitglieder des Kreises wieder. Unvergängliche Denkmäler des Geistes dieser Männer sind uns in Kleists »Michael Kohlhaas«


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und dem »Prinzen von Homburg« erhalten geblieben (Rez. von Joachim Müller, Dt. Lit.-Ztg. 59, 1938, Sp. 1063--64). -- Eine umfangreiche politische Biographie Adam Müllers hat L. Sauzin < 2645> in umfassender Quellenkenntnis und mit dem Bemühen, möglichst unparteiisch zu sein, geschrieben. Er gibt auf den ersten 50 Seiten eine ausführliche und interessante Schilderung des Adam Müller-Bildes in der Literatur und beschreibt dann sein Leben mit besonderer Berücksichtigung aller Kontroversen, die sich um seinen Charakter und sein Werk entsponnen haben. Seiner Tendenz nach kann man das Buch als eine überaus gemäßigte Apologie Adam Müllers bezeichnen. S. sieht in ihm nicht ausschließlich den laudator temporis acti und den Konvertiten, sondern er findet in ihm starke protestantische Züge und vieles in die Zukunft Vorausweisende: auch er ist zu seinem Teil ein Vorahner der deutschen Einigung und des deutschen Führerstaates gewesen. -- Die juristische Diss. von K.-A. Wolff < 1528> gibt eine systematische Darstellung der Volksgeistlehre Savignys und setzt sie zu den Anschauungen früherer und späterer Rechtslehrer kritisch in Beziehung.


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