IV. Das neunzehnte Jahrhundert.

Im Berichtsjahr sind keine Gesamtdarstellungen über das 19. Jh., sondern nur Einzeluntersuchungen zu verzeichnen. Brigitte Theune < 2648> vergleicht die Anschauungen Jahns, Rottecks, Welckers und Dahlmanns über Volk und Nation, indem sie erst jeden Denker einzeln behandelt, dann eine systematische Zusammenfassung gibt. Gemeinsam ist allen die hohe Wertschätzung des deutschen Volkes gegenüber den bestehenden dynastischen, ständischen und partikularen Mächten. Im übrigen stehen sich aber Jahn und Rotteck in ihrem Volks- und Staatsdenken diametral gegenüber, während Welcker bei grundsätzlicher Übereinstimmung mit Rotteck dessen allzu rationalistischen Urteile zu mildern versucht und Dahlmann mit der Betonung des historisch Gewordenen eine eigene Linie innehält. Das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft wird von ihnen ganz verschieden aufgefaßt: während bei Jahn und Dahlmann der Einzelne seinen Wert erst durch die Gemeinschaft erhält, rechtfertigt sich für Rotteck umgekehrt die Gesellschaft nur durch ihre Zweckmäßigkeit für den Einzelnen. Die für Jahn und Dahlmann natürlich gegebene und damit unlösbare Bindung an die Gemeinschaft ist für Rotteck und Welcker »vernünftig überlegt, freiwillig unter bestimmten Voraussetzungen eingegangen, rechtlich festgelegt und jederzeit zu lösen«. Als beste Illustration dieser Anschauungen dienen die Lösungen, welche die vier Männer für die Judenfrage und für das Problem der weiteren Zugehörigkeit von Ausgewanderten zum deutschen Volke bieten. -- Mit wichtigem neuen Material zur Geschichte des völkischen und staatlichen Denkens macht uns G. Gieses Aufsatz über drei Pädagogen der Hegelschen Schule bekannt < 2649>. Er zeigt, wie in der Zeit, als die deutsche Erziehungslehre zur bloßen Didaktik herabsank, in einer Seitenlinie der deutschen Pädagogik unter dem Einfluß Hegelscher Ideen -- aber nicht ohne verfälschende Liberalisierung -- der Staatserziehungsgedanke (Erziehung durch, für und zu dem Staate) weiterlebte. Als Hauptvertreter kennzeichnet er Alexander Kapp, der allerdings in den vierziger Jahren von der Staatspädagogik hinweg eine Wendung zum individualistisch-humanistischen Bildungsideal vollzog, Karl Rosenkranz, der, in seiner Staatsauffassung liberaler als Hegel, doch eine Ahnung vom Wert der Volkserziehung hatte, und Gustav Friedrich Thaulow. Dieser begründete die Erziehung aus dem Zwang eines Volkes zu seiner Selbsterhaltung, begriff den Staat als das politisch organisierte Volk und kam zu


S.414

dem Schluß, daß außer der Staatserziehung keine andere möglich oder denkbar sei. Er hat den politischen Erziehungsgedanken am besten gewahrt. -- Über die ideengeschichtlichen Grundlagen des »monarchischen Prinzips« bringt die juristische Diss. von E. Danecki < 2647> wenig Belangreiches bei. Erwähnenswert ist, daß sie neben Friedrich Julius Stahl einige zeitgenössische katholische Verfechter des monarchischen Prinzips stellt und zu beweisen versucht, daß sich protestantische und katholische Staatstheorie um die Mitte des Jh.'s gegenseitig vielfach beeinflußt haben. -- Die Entstehungsgeschichte der Begriffe »großdeutsch« und »kleindeutsch« von H. v. Möller < 1088>, die für die Entwicklung der nationalen Idee in den Jahren 1848--49 wertvollen Aufschluß bietet, wird oben im Zusammenhang mit der politischen Bewegung besprochen (S. 284).

Therese Hubers Stellung zu Staat und Gesellschaft untersucht in Auswertung ihrer nachgelassenen Briefe die Diss. von Elfriede Müller < 2618>. Therese Huber hatte zwar keine besonderen politischen Interessen und keine originalen Ideen, stand aber in Beziehung zu zahlreichen bedeutenden Männern und übte in ihrer langjährigen Redaktionstätigkeit am Cottaschen Morgenblatt großen publizistischen Einfluß aus. Die Verf. bleibt zu sehr an den einzelnen Äußerungen ihrer Briefe haften und kommt nicht weit über die mit Recht als oberflächlich gekennzeichnete Therese Huber-Biographie von Ludwig Geiger hinaus. -- An der Wende des romantischen Zeitalters stand der Dichter Karl Immermann. Er besaß ein außerordentlich fein ausgebildetes Situationsbewußtsein und erweist sich in seinen Romanen, Satiren und Erinnerungen als ein fähiger, klarsehender Deuter und Kritiker seiner Zeit. Die umfangreiche Arbeit von E. Guzinski, »Karl Immermann als Zeitkritiker« < 2620> zeigt seine politischen und kulturpolitischen Ansichten in erschöpfender Fülle auf. Immermann war nicht nur Kritiker des vergänglichen »Zeitgeistes«, sondern auch Künder des ewigen »Volksgeistes«, er besaß einen reifen und edlen Begriff vom deutschen Volke und bewahrte mitten in seiner jungdeutschen Umgebung mannhaft eine entschieden deutsche, preußische und monarchische Haltung. -- Viel schwieriger ist die Stellung Hebbels zu Volk und Staat eindeutig festzlegen. Das beweist schon die Gliederung der Diss. von F. Bottenhorn < 2654>, in der Hebbels Ansichten, wie er sie in seinen Tagebüchern, Briefen, Zeitungsaufsätzen und dichterischen Werken vertreten hat, gesondert dargestellt werden. Liberale und konservative Elemente sind in seinem Denken vermischt. Charakteristisch ist Hebbels Abneigung vor politischen Extremen, beachtenswert sein stetes Eintreten für die deutsche Einheit, der freie Standpunkt in der preußisch-österreichischen Frage und die entschieden deutsche Haltung gegenüber dem Nationalitätenproblem in der Doppelmonarchie. -- »Die völkische Idee bei Johann Hinrich Wichern« lautet das Thema einer Gemeinschaftsarbeit Göttinger Theologiestudenten < 2656>. Sie haben mit Fleiß die in die Zukunft weisenden Ideen Wicherns herausgearbeitet: das völkische Artgefühl, den echten Sozialismus und die Sorge um das Auslanddeutschtum. Obwohl er ein ausgesprochenes Rassebewußtsein noch nicht haben konnte, lassen seine Äußerungen über die Zusammengehörigkeit der germanischen Völker und die scharfe Ablehnung des Judentums doch ein gewisses Rasseempfinden bei ihm verspüren.

Riehls Gedanken über Volk und Volkswissenschaft können heute als Grundlage einer ganzen Wissenschaft gelten und sind bereits in zahlreichen volkskundlichen


S.415

Programmschriften dargelegt worden. Das Verdienstliche der Arbeit von H. Gädeke < 2653> beruht demnach nicht so sehr im systematischen Teil als vielmehr darin, daß sie Riehls Stellung zu den praktischen politischen Fragen seiner Zeit und seinen politischen Werdegang beleuchtet. Vom Radikalismus der vierziger Jahre wohl berührt, aber nicht gepackt, durch Abstammung und Elternhaus mit dem Volksleben eng verbunden, von Arndt beeinflußt, wurde er durch das Sturmjahr 1848 erst bewußt konservativ. Im folgenden Jahrzehnt wendete er sich der sozialpolitischen Arbeit zu und zog sich seit den sechziger Jahren von der politischen Tätigkeit ganz zurück. Er war stets großdeutsch und in der Außenpolitik großgermanisch eingestellt. -- Die Frankfurter Diss. von Ernst Richter über die Idee des Föderalismus bei Konstantin Frantz < 2657> berührt sich eng mit der im Vorjahre <1936 S. 413> besprochenen von M. Vögele und führt unsere Erkenntnis nicht wesentlich weiter. -- Wenigstens eine Erwähnung verdient auch an dieser Stelle die Friedrich Naumann-Biographie von Th. Heuß < 1210>, die an dieser markantesten Gestalt des innerpolitischen Lebens der wilhelminischen Zeit die ganze Fülle der staatlichen und völkischen Probleme der Jahrhundertwende deutlich werden läßt -- allerdings mit einem starken Akzent zugunsten des späteren, liberalen Politikers Naumann (vgl. oben S. 295).

Zwei Wegbereiter des 20. Jh.'s, Nietzsche und Houston Stewart Chamberlain, werden direkt zu den Fragen der Gegenwart in Beziehung gesetzt. H. Härtle < 2628> grenzt die Gemeinsamkeiten und die Verschiedenheiten zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus klar ab. Das Gemeinsame besteht im gleichen Lebensgefühl, im »Weltanschaulich-Wertmäßigen«, weniger im »Politisch-Konkreten«. In seiner Ablehnung des Liberalismus und der Demokratie hat sich Nietzsche in einen heroischen Individualismus hineingesteigert und die Brücke zwischen dem Einzelnen und der Masse, nämlich den Volksgedanken, der in seinen romantisch beeinflußten Jugendwerken noch lebendig war, gänzlich verloren. Ebenso schwand ihm im Kampf gegen den Staat seiner Zeit der Blick für den wahren Staat, und schließlich verfälschte ihm auch seine pessimistische Meinung von der Unvermeidlichkeit der Rassenvermischung den Rassegedanken. Trotz dieser schonungslos vollzogenen Distanzierung sieht der Verf. doch in Nietzsche, dem Umwerter aller Werte, den größten Propheten des 20. Jh.'s und glaubt, daß »an künftiger Wirkung Nietzsche alle Vorläufer des Nationalsozialismus übertreffen wird«. -- Der Erlanger Universitätsprofessor W. Vollrath < 2629> stellt H. St. Chamberlains Theologie in großen Zügen dar. Seine Ansicht vom Alten Testament, sein Jesus- und Paulusbild und seine Deutung der Kirchengeschichte sind ausführlich behandelt, sie zeigen in vielfacher Weise die geniale Originalität dieses Denkers. Für die Erkenntnis von Chamberlains Wesensart ist methodisch besonders fruchtbar, daß der Verf. vieles aus seinem Engländertum zu erklären vermag.


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)