III. Landesgeschichte.

Einen wichtigen Beitrag zur ma.'lichen Geschichte liefert M. Ernst durch die Fortführung seiner schon mehrfach <1925, S. 605; 1929, S. 537> gewürdigten Studien zur ältesten Entwicklung Ulms. Nochmals überprüft er unter Berücksichtigung der neuesten Forschung, wobei er vor allem gegen die Arbeit Fehls <1925, S. 605 f.> über den bekannten Vogteivertrag von 1255 Stellung nimmt, die gesamte Überlieferung jeder Art von den alamannischen Reihengräbern an bis zur Belehnung des Grafen Ulrich von Württemberg und der Ulmer Vogtei (1259). Besonders eindringlich beschäftigt sich E. mit den Fragen der geschichtlichen Topographie, der Festlegung des altalamannischen Ulm, der Karolingerpfalz, der Stauferstadt, und mit Einzelheiten der Rechts- und Verfassungsgeschichte (Stadtgericht, Landgericht und Ulmer Pirs). Die aufschlußreiche Arbeit < 325> verdient weiteste Beachtung.

Die Entwicklungsgeschichte des fürstlichen Absolutismus im alten Württemberg wird in anregender Form beleuchtet durch eine Studie von H. Tüchle über die Regierungszeit Herzog Karl Alexanders (1733--1737) < 984>. Der auf


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dem Boden der katholischen Kirche stehende Verf. will eigentlich nur die Kirchenpolitik des Herzogs behandeln und meint damit vor allem dessen Versuche, der vertraglich sicher gestellten evangelischen Landeskirche und den mit ihr verbündeten Ständen gegenüber auch dem an sich recht unbedeutenden katholischen Kirchenwesen, das schon unter seinem Vorgänger Eberhard Ludwig am Hof und in der Residenz sich zu entwickeln begonnen hatte, Lebensraum zu verschaffen und es zugleich in einer dem Herzog genehmen Form in die katholische Kirchenorganisation einzugliedern. Da aber gerade diese Versuche in den weitesten Kreisen der Bevölkerung Mißtrauen wachgerufen und damit eine breite Stimmungsgrundlage für die ständische Opposition geschaffen haben, wird T. ganz von selbst zu einer Behandlung all der großen politischen Fragen gezwungen, die an das kurze, aber inhaltreiche Regiment Karl Alexanders anknüpfen, wenn er auch die Tätigkeit des Jud Süß nur nebenbei streift. Vor allem werden unter Heranziehung aller erreichbaren Quellen, nicht zuletzt auch der Archive des katholischen Lagers (Päpstliches Geheimarchiv u. a.), die dem Herzog zugeschriebenen Staatsstreich- und Rekatholisierungspläne näher untersucht. T. gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß, soweit solche Pläne erwogen wurden, sie in kirchlicher Hinsicht nicht über das oben erwähnte Bestreben des Herzogs um eine Duldung des katholischen Kirchenwesens hinausgingen und im übrigen auf eine Stärkung der politischen und militärischen Schlagkraft des Landes durch Einschränkung des Ständeregiments abzielten. Daß freilich gewisse Äußerungen und Auffassungen im katholischen Lager selbst genügend Anlaß zu den die protestantische Bevölkerung beunruhigenden Gerüchten gaben, geht aus dem von T. mitgeteilten Material deutlich hervor.

Die bedeutendste und inhaltlich wie auch darstellerisch gewichtigste Erscheinung des Berichtjahrs ist zweifellos E. Hölzles groß angelegte Arbeit über die Entwicklung Württembergs in den entscheidenden Schicksalsjahren 1805--1819 < 1050>. Der äußeren Form nach ein selbständiges Werk, ist das Buch doch im Grunde gedacht als Schlußteil einer umfassenden Darstellung der württembergischen Geschichte von der französischen Revolution an bis zum Ausklang der Deutschen Erhebung, als deren erster die Jahre 1793--1805 umfassender Band H.'s 1931 gleichfalls selbständig herausgekommenes Buch über »Das alte Recht und die Revolution« <1931, S. 471> anzusehen ist. Als wissenschaftliche wie als darstellerische Leistung übertrifft der neue -- übrigens gut bebilderte -- Band merklich die schon sehr verheißungsvoll einsetzende, recht tüchtige und fördernde frühere Arbeit. Es kommt H. vor allem darauf an, nicht etwa ein möglichst erschöpfendes Bild des geschichtlichen Ablaufs der Dinge im einzelnen zu entwerfen, sondern vielmehr das Wirken der tragenden und treibenden Kräfte in einer alles Wesentliche erfassenden geschichtlichen Darstellung herauszustellen. Er hat für die überaus schwierige Lösung dieser Aufgabe weit glücklicher als in seinem früheren Werk eine überaus lebendige, geradezu spannende und mitreißende Form der Gestaltung gefunden. Es ist ohne weiteres verständlich, daß auf eine derartige, mit den grundsätzlichen Fragen der deutschen Geschichte sich auseinandersetzende Arbeit, wie H. auch freimütig bekennt, der große Umschwung des Jahres 1933 nicht ohne Einwirkung geblieben und eine Überprüfung der bisher vertretenen Ansichten über Sinn und Wert des einzelstaatlichen Machtstrebens für die deutsche Gesamtgeschichte veranlaßt hat. So sehen wir, wie das Trugbild der mittelstaatlichen


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Souveränität zusammen mit der Aussicht auf Gebietszuwachs und Niederringung der altständischen Gegnerschaft den kühlen, dem völkisch-nationalen Gedanken fremden Gewaltmenschen Friedrich in das Lager Napoleons treibt und hier ihm freilich unter dem Drucke der napoleonischen Gewaltherrschaft sofort wieder entgleitet. Seiner mit unerbittlicher Härte neuaufgebauten Staatsverfassung und -verwaltung, in der der fürstliche Absolutismus noch einmal verspätet auflebte und für altwürttembergisches Wesen nur in bescheidenen Grenzen Raum ließ, droht dann aber nach Napoleons Sturz trotz des Versuches eines Umbaus im Sinne der modernen landständischen Bewegung der völlige Zusammenbruch, da die mit einem Male wieder zu neuem Leben erwachte altständische Bewegung, in ihren Reihen sogar viele hohe Staatsbeamte, die Gunst des unterdrückten und ausgesogenen Volkes sich zu sichern weiß und durch ihr Bündnis mit den deutsch-national gesinnten Kreisen die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen versteht. Die Regierung des den nationalen Bestrebungen zugänglichen, aber doch noch mehr vom Souveränitätsbewußtsein erfüllten Königs Wilhelm I. bringt dann trotz des Versuches mit dem national gesinnten Freihern von Wangenheim nicht die Lösung des Konflikts im Sinne der deutschen Erhebung; eben das Trugbild einer mittelstaatlichen Souveränität führt schließlich den König und die altrechtlerische Bewegung zusammen in dem endgültigen Verfassungswerk von 1819, während die deutsch-national gesinnten »Volksfreunde« um Wangenheim, Friedrich List, Justinus Kerner und Heinrich Kessler nach vorübergehenden Teilerfolgen mit ihren Reformbestrebungen scheitern. Dieser überaus verwickelte, aber manchmal geradezu dramatisch zugespitzte Ablauf der Ereignisse wird von H. unter fast erschöpfender Verwertung aller Quellen und Heranziehung aller wichtigen Archive klargelegt. Gegen die etwas ungünstige Beurteilung des in den Augen des württembergischen Volks im Lichte einer romantischen Verehrung erscheinenden zweiten Königs werden sich zweifellos gefühlsmäßig bedingte Einwände anmelden; aber es ist doch allmählich an der Zeit, auch diese sicherlich überdurchschnittlich begabte und weitblickende, zugleich doch undurchsichtige und in Vorurteilen und Selbstüberschätzung befangene Herrschergestalt einer mehr sachlich eingestellten Würdigung zu unterziehen. Wie sich die von H. im Hinblick auf Volk und Staat aufgezeigte Entwicklung im Schicksal des einzelnen, am Leben seines Volks tätig anteilnehmenden Mannes widerspiegelt, zeigt hübsch die allerdings mehr vorläufige Skizze von Eugen Schmid über den Lebensgang des durchaus national eingestellten Publizisten und Pfarrers Johann Gottfried Pahl < 2615>, der als Vertrauens- und Geschäftsmann kleiner Adelsherrschaften des alten Reichs seine Tätigkeit beginnt und schließlich als württembergischer Prälat und Abgeordneter der neuen Ständekammer 1839 beendet. Die auch von Hölzle gewürdigte Tatsache, daß König Friedrich trotz seines Bündnisses mit Napoleon seinem Land die schwersten Bedrängungen und Ausplünderungen durch die französische Soldateska nicht hat ersparen können, wird gut beleuchtet durch den in der Hauptsache aus französischen Quellen (Campagne en Allemagne 1805) und Erinnerungswerken schöpfenden Aufsatz von M. Ruoff über die Leiden, die die fränkischen Gebietsteile Neu-Württembergs als Aufmarsch- und Durchzugsgebiet der gegen die österreichische Armee 1805 vorrückenden französischen Truppen erdulden mußten < 1051>. Die furchtbare Katastrophe des württembergischen Heereskontingents auf dem Rußlandfeldzug

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Napoleons 1812 schildert in volkstümlicher Weise O. Gerhardt auf Grund der verschiedenen Kriegserinnerungen der dem Untergang entronnenen Kriegsteilnehmer, neben denen nur ergänzend Akten der Archive herangezogen worden sind < 1049>.

Eine wertvolle Stoffsammlung zur württembergischen Geschichte in der Zeit der beiden letzten Könige bietet uns in seiner als Handschrift gedruckten und als »Versuch« bezeichneten Veröffentlichung über den Minister v. Mittnacht dessen letzter Sekretär L. Gammerdinger < 1169>. Gestützt auf persönliche Erinnerungen, bisher unveröffentlichte Aufzeichnungen Mittnachts und seines Schwiegersohns v. Neithardt sowie auf amtliche Akten, setzt er sich vor allem mit den Angriffen, die in früherer Zeit Schäffle, Suckow und Sybel, und dann später Eulenburg, Kiderlen-Wächter und Holstein gegen M. gerichtet haben, scharf auseinander und zeigt, daß das unter dem Einfluß dieser voreingenommenen Quellen in das neuere Schrifttum übernommene Bild von der Persönlichkeit und dem Wirken M.s wesentlich zu berichtigen ist.

Aus der Kriegsgeschichte des schwäbischen Stamms und insbesondere Württembergs trägt Seeger eine bunte, etwas locker gestaltete Reihe von Aufsätzen zusammen, die mit guten Bildern versehen, weiteren Kreisen die Entwicklung des schwäbischen Soldatentums von der Zeit des schwäbischen Vorstritts und der Führung der Reichssturmfahne an bis zum Weltkrieg in einzelnen Ausschnitten nahebringen möchte < 1999>. Das Hohelied des schwäbischen Soldaten, das hier erklingt, wird in erschütternder Form verstärkt durch die von Haldenwang aufgestellte Stärke- und Verluststatistik der am Weltkrieg beteiligten württembergischen Truppenverbände < 1284>.

Der Geschichte des Judentums in Württemberg sind zwei aus jüdischer Feder stammende, also vom jüdischen Standpunkt aus geschriebene Beiträge gewidmet. Die »Geschichte der Juden in Württemberg« des verstorbenen Rabbiners Tänzer < 1867> legt -- von einer kurzen geschichtlichen Einleitung abgesehen -- den Nachdruck der Darstellung auf die Entwicklung im Königreich Württemberg während des 19./20. Jh.'s, auf die Emanzipationsbestrebungen, auf die Entstehung des württembergischen Israelitengesetzes von 1828 und seine Folgen, vor allem auf die Schaffung der jüdischen Oberkirchenbehörde und die Entwicklung der jüdischen Kirchenverfassung bis zum Jahre 1931. T. verwertet dabei ausgiebig Akten des Staates sowohl wie der jüdischen Kirchenregistraturen. Dicker behandelt die Geschichte der Ulmer Judengemeinde bis zu ihrer Austreibung im Jahre 1499 < 1868> unter Heranziehung der Bestände des Ulmer Stadtarchivs und der württembergischen Staatsarchive. Für das 15. Jh. vermag er, namentlich soweit die innere Entwicklung der Judengemeinde in Frage kommt, manches Neue beizubringen, zumal aus den von ihm erstmals ausgiebig verwerteten hebräischen Quellen, den sog. Responsenwerken. Es zeigt sich die auch sonst in Schwaben zu beobachtende Tatsache, daß die Gemeinde schon vor ihrer Auflösung sich im vollen Niedergang befand, den eine seit der Mitte des 15. Jh.'s mehr und mehr judengegnerisch eingestellte Politik des Rats nur beschleunigte. Die kritische und darstellerische Verarbeitung des Stoffs läßt bei D. sehr viel zu wünschen übrig. Die ältere Darstellung Nüblings behält nach wie vor ihren vollen Wert und wird nur in Einzelheiten ergänzt und berichtigt.


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