I. Allgemeines und Gesamtdarstellungen.

Zu den charakteristischen Zeichen des Verfalls der Donaumonarchie im späten 19. Jh. gehört die Tatsache, daß es der Geschichtsschreibung nicht mehr möglich war, in der Geschichte dieses Staatswesens einen eindeutigen, allgemein anerkannten Sinn zu finden. Man zog sich auf


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eine politische Geschichte im äußerlichen Sinn und eine rein beschreibende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte zurück, die den entscheidenden politischen Problemen auswich, und überließ die einander mannigfach widerstreitenden Versuche einer solchen Sinndeutung der Publizistik der politischen Parteien und Strömungen. So nimmt es nicht wunder, daß die durch das Diktat von St. Germain geschaffene Republik Österreich einen Sinn ihres Daseins erst recht nicht zu finden vermochte. Nicht zufällig ist sie der Ort geworden, von dem einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung der Weg bereitet wurde. Als aber dann seit 1933 der Versuch gemacht wurde, einen »unabhängigen und selbständigen« Bundesstaat Österreich zu schaffen, wurde die Frage nach dem Sinn dieses »zweiten deutschen Staates« unausweichlich. Da er in seiner eigenen Geschichte nicht gefunden werden konnte, erklärte man das kleine Nachkriegsösterreich für den unmittelbaren Nachfolger der Habsburgermonarchie und schrieb ihm deren »Mission« im Donauraum zu. Dabei hatte man aber jene Tatsache, daß die Monarchie einen eindeutigen Sinn gar nicht mehr besessen hatte, übersehen. So erscheinen in der »vaterländischen« Publizistik dieser Jahre alle jene einander widersprechenden und überkreuzenden Motive des ausgehenden 19. Jh.'s. Aus den an den österreichischen Universitäten eingeführten Vorlesungen über die ideellen und geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Staates ist H. Kretschmayrs Geschichte von Österreich <1936, 283> entstanden, ein ausgezeichnet geschriebener Abriß der Geschichte der Donaumonarchie, der vor allem die deutsche Leistung dieses Staates herauszuarbeiten sucht, sicherlich geeignet, dem denkenden Leser vor Augen zu führen, daß niemand ungeeigneter war als das kleine Österreich seit 1919, diese deutsche Aufgabe der Donaumonarchie zu erfüllen. Arnold Winklers Buch »Österreichs Weg«, der andere dieser Versuche, die ideellen und geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Staates zu erfassen <1936, 285>, gibt eine dürftige Skizze der österreichischen Geschichte, die vor den entscheidenden Problemen völlig versagt. Der Spätzeit der Monarchie mit ihren schicksalsschweren Problemen sind ganze zwei Seiten gewidmet, Weltkrieg und Nachkriegsösterreich werden überhaupt nicht behandelt. Wie ein solches Buch die ideellen und geschichtlichen Grundlagen »des« österreichischen Staates darstellen sollte, ist gänzlich unerfindlich. Auch H. Hantsch geht in seiner Geschichte Österreichs < 334> von der Annahme aus, daß das kleine Nachkriegsösterreich der »Universalerbe der österreichisch-ungarischen Monarchie« gewesen sei, und er meint Bekenntnis zum deutschen Volk und zum »Vaterland«, das heißt zu einem selbständigen Staate Österreich, vereinen zu können. Will er auch die Verwurzelung Österreichs in der deutschen Geschichte nicht leugnen, so ist ihm österreichische Geschichte eben doch Geschichte des Staates Österreich, dessen »Einheit« den zentralen Blickpunkt für seine Darstellung abgeben soll. Leider liegt bisher nur der erste Band des Werkes, der bis 1648 führt, vor. Für die Beurteilung der die Monarchie gestaltenden und zerstörenden Kräfte ist aber gerade die Darstellung der Spätzeit unentbehrlich. Jedenfalls ist auch für den vorliegenden Band der Weg zur Ablösung vom Reich und zur Sonderstaatlichkeit das Leitmotiv. So ist für Hantsch Friedrich der Streitbare der erste »Ganzösterreicher«, da der letzte Babenberger sich einzig von den Aufgaben seines Territoriums habe leiten lassen und eine Politik trieb, die in ihren durch das Verhältnis zu Böhmen und Ungarn bestimmten Leitlinien nur »österreichisch« sein wollte. Die Marchfeldschlacht aber war eine bezeichnend österreichische Schlacht, weil an ihr Tschechen und Ungarn teilnahmen. »Österreichisch« ist für Hantsch

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offenbar eine Politik, die sich vom Reiche abwendet. Demgemäß bedeutet der Einbruch der Reformation »die Zerstörung der geistigen Einheit Österreichs«, die Gegenreformation die Wiederherstellung dieser politischen und geistigen Einheit. Hier zeigt sich die ganze Problematik des von Hantsch verwendeten Österreichbegriffs. Denn unter Österreich muß nach seiner Ansicht notwendig Ungarn mitverstanden werden, da sonst die österreichische Aufgabe im Donauraum nicht verständlich gemacht werden kann. In Ungarn ist die Gegenreformation aber nur zu einem Teilerfolg gekommen, bleibt die Vielheit der Konfessionen erhalten. Es kann also gar keine Rede davon sein, daß die Gegenreformation den Katholizismus zum Träger der geistigen Einheit in der Gesamtmonarchie gemacht hätte. In Wirklichkeit erweist sich die von Hantsch in der ganzen österreichischen Geschichte auf Grund des Geschichtsbildes des späteren 19. Jh.'s gesehene Einheit eben als Fiktion. Die Geschichte der unter der Herrschaft der Herzöge von Österreich vereinigten südostdeutschen Länder im Mittelalter kann nicht einfach als Vorstadium einer Donaumonarchie gesehen werden, die selbst wieder erst dadurch entstand, daß die Habsburger aus ihrer deutschen Stellung allmählich und gegen ihren heftigen Widerstand verdrängt wurden. Sind sie doch erst dadurch zu Herrschern eines europäischen Einzelstaates geworden, der aber niemals eine ihm eigentümliche Staatsidee zu gewinnen vermochte. Ist diese Monarchie daran zugrunde gegangen, daß sich ihre Staatsbürger über den Sinn dieses Gebildes miteinander völlig unvereinbare Vorstellungen machten, dann ist es nicht möglich, eine dieser Ideen zum Leitmotiv der österreichischen Geschichte zu erheben. Tatsächlich zeigt das Buch von Hantsch ein typisches Gemisch solcher Leitgedanken. Im einzelnen gewinnt das gut geschriebene Buch an Wert, sobald Hantsch zur Darstellung der Neuzeit gelangt. Die das MA. behandelnden Kapitel lassen wirkliche Vertrautheit mit den Problemen der Landes- und Volksgeschichte vermissen und vermögen daher kein richtiges Bild vom Werden des deutschen Volkstums in den österreichischen Ländern zu geben. Viel farbloser und von geringem wissenschaftlichen Wert ist das Buch von H. Gsteu < 333>, das allerdings auch im »christlichen Ständestaat von 1934« den Sinn der österreichischen Geschichte sah, in einer im Frühjahr 1938 ausgegebenen neuen Auflage aber zur Einsicht kam, daß diese Politik der letzten Jahre ein Irrweg gewesen sei.

Eine andere Deutung der österreichischen Geschichte versucht das Buch von J. Wolf, K. J. Heilig und H. M. Görgen: »Österreich und die Reichsidee« (Wien, Österr. Verl. f. Kunst u. Wiss., 288 S.). Wolf schildert die »Reichsidee als Fundament des Abendlandes«, das heißt das antike Imperium Romanum und seine Verchristlichung, Heilig die »Reichsidee und österreichische Idee von den Anfängen bis 1806«, Görgen die »Reichsidee von 1804 bis zum Ende des Weltkrieges«. Das Buch kann ohne Übertreibung als Tendenzschrift des politischen Katholizismus gekennzeichnet werden. Wird doch geradezu eine »katholisch-österreichische Geschichtsschreibung« als Gegengewicht gegen ein politisch gefährliches »gesamtdeutsches« Geschichtsbild gefordert. Die geschichtliche Wirklichkeit erscheint hier in völliger Verzerrung, nirgends wird der Versuch unternommen, die wirklich oder angeblich die österreichische Geschichte bestimmenden Ideen an den realen Kräften und Möglichkeiten zu messen, wie denn überhaupt die reale Erscheinung jenes das Abendland umspannenden christlichen »Reiches« völlig im Dunkel bleibt.

Stehen diese Bücher in engem Zusammenhang mit der politischen Lage der letzten Jahre, so wurzelt die Geschichte Deutschösterreichs von Mayer-Kaindl-


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Pirchegger noch in der Vorkriegssituation. Der Dritte, von H. Pirchegger bearbeitete Band schließt das nützliche Werk ab < 332>

Die knappe und übersichtliche Skizze, die G. Roloff aus guter Kenntnis der Literatur von der Geschichte des Habsburger Reiches <1936, 284> gegeben hat, läßt doch die Antwort auf die Frage, welche Kräfte zu seinem Untergang führten, vermissen. -- Im Gegensatz zu den bisher besprochenen Büchern steht das von H. v. Srbik und J. Nadler herausgegebene Sammelwerk Österreichs Erbe und Sendung im deutschen Raum <1936, 228>. Ist das Programm auch nicht von allen Mitarbeitern in gleicher Weise durchgeführt, zwischen dem österreichischen Deutschtum, dem österreichischen Staat und der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht überall klar geschieden worden, so liegt doch hier ein Gesamtbild aus der Feder deutschbewußter Österreicher vor, wie wir es bisher nicht besaßen. Das Buch ist heute freilich schon auch zu einem historischen Dokument geworden und muß im Hinblick auf seine Entstehungszeit gelesen werden, in der in der Zeit des Kampfes gegen die Verzerrungen einer sich »vaterländisch« gebärdenden Geschichtsklitterung die Töne anders verteilt und manches weniger scharf formuliert werden mußte als seit dem März 1938.

V. Bibl greift in seinem Buch »Die Tragödie Österreichs« < 336> das Thema seines Werkes »Der Zerfall Österreichs« noch einmal auf. Es geht um die Frage, durch welche Irrtümer und Fehler die »weitläufige und herrliche Monarchie«, von der Prinz Eugen sprach, zerstört wurde. B. nimmt also von vornherein an, daß die Tragödie Österreichs im Versagen seiner Herrscher und Staatsmänner gelegen habe, wenn er auch nicht behaupten will, daß sich die Monarchie durch eine Politik »im Zeichen des nationalen und freiheitlichen Gedankens« hätte erhalten lassen. Wenn aber die nach seiner Meinung allein zeitgemäße Politik die Monarchie nicht erhalten konnte, dann können doch die Ursachen ihres Unterganges nicht allein in den Irrtümern und Fehlern einzelner Menschen gelegen haben, sondern sie müssen in der inneren Struktur der Monarchie gesucht werden. B. selbst spricht vom Fehlen einer Staatsidee. Ist ihm doch Österreich ein zusammengeheirateter Staat. Und doch setzt er in diesem dynastischen Länderkomplex eine Staatsidee als selbstverständlich voraus, wenn das erste Kapitel »Auf dem Wege zum Einheitsstaat« überschrieben ist und schon Maximilian I. die Idee eines »Gesamtstaates« zugeschrieben, über das mangelnde Verständnis der Stände der einzelnen Länder für diesen Gesamtstaat geklagt wird. Es ist die liberal-zentralistische Deutung der »Gesamtstaatsidee«, die hier noch einmal vorgetragen und zur Norm der ganzen Geschichte der Donaumonarchie gemacht wird. Wenn nun Franz I., Metternich, Kaiser Franz Joseph darob angeklagt werden, die liberalen Zeichen der Zeit nicht verstanden, die Umwandlung der Monarchie in ein Völkerreich verhindert und damit 1866 und 1918 verschuldet zu haben, so ist sich B. offenbar gar nicht bewußt geworden, daß ein Erfolg der von ihm als wünschenswert erklärten Politik die Einigung Deutschlands verhindert oder doch aus der Monarchie einen Völkerstaat geschaffen hätte, wie ihn die Slawen und die westeuropäische Publizistik erträumten, der ein höchst fraglicher Bundesgenosse des Deutschen Reiches geworden wäre. Im letzten Kapitel seines Buches hat B. in mutigen Worten der »vaterländischen Ideologie« des Bundesstaates Österreich das Urteil gesprochen. Ist ihm gar nicht bewußt geworden, welch ein Widerspruch zwischen seiner politischen Stellung zur Gegenwart und seinem historischen Urteil über die Donaumonarchie besteht? Diese Donaumonarchie war ein dynastisches Gebilde, eine monarchische


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Staatenverbindung. Es ist daher völlig unzulässig, an sie mit dem Maßstabe eines modernen Staatsgedankens heranzutreten und damit die in die Sphäre eines privaten Familienegoismus abgeschobene »dynastische« Politik zu diskreditieren. Es gilt vielmehr zu zeigen, warum die Monarchie aus ihrer inneren Struktur heraus kein »Staat« werden konnte und damit in eine Existenzkrise geriet. Dazu aber bedarf es eines gesamtdeutschen Blickpunktes, zu dem sich B. nicht zu erheben vermag. Denn dieser Ankläger österreichischer Staatsmänner ist völlig einem engen »österreichischen« Geschichtsbild verhaftet, dessen Bedeutung allerdings über den engen Kreis des Wiener Zentralismus nicht hinausgereicht hat. Es ist die Tragödie B.'s wie mancher seiner Vorläufer (Jos. v. Hormayr, Ottokar Lorenz), aus Enttäuschung darüber, daß Österreich nicht den von ihnen ersehnten Weg ging, aus gekränkter Liebe zu einem imaginären Gebilde zu Pessimisten oder Verächtern seiner geschichtlichen Wirklichkeit geworden zu sein. Wir möchten hoffen, daß das große Geschehen des Jahres 1938 auch in V. Bibl die Einsicht hat reifen lassen, daß der »Zerfall«, die »Tragödie« Österreichs eine der Voraussetzungen für das Werden des Großdeutschen Reiches gewesen ist.

In einem flüssig geschriebenen und mit schönen Bildern ausgestatteten Buch schildert R. Suchenwirth Das tausendjährige Österreich < 335>, Landschaft, Volkstum und die geschichtliche Leistung der Deutschen in der Donaumonarchie, die freilich in der Problematik ihres Wesens kaum voll erkannt ist. E. Stranik gibt in seinem Buch über »Österreichs deutsche Leistung« eine Kulturgeschichte des südostdeutschen Lebensraumes <1936, 229>, Skizzen der Leistung der Alpen- und Donauländer in Dichtung, bildender Kunst, Musik, in Naturwissenschaften, Medizin und Technik.

Das Buch von A. Tibal, L'Autrichien, Essais sur la formation d'une individualité nationale <1936, 287>, gehört der politischen Publizistik an, die die Existenz einer »österreichischen Nation« nachweisen möchte. Im Gegensatz zu dem weithin wertvollen Buch A. Roberts <vgl. 1933/34, 1355, S. 306> muß es als völlig verfehlt bezeichnet werden. Tibal gibt literar- und musikgeschichtliche Skizzen über den Wiener Humanismus des 16. Jh.'s, den Katholizismus der Gegenreformation und das Jesuitendrama, die italienische Oper, das Barock als »österreichische Kultur«, über Leibniz in Wien, über Mozart und endlich über das Verhältnis »Österreichs« und »Deutschlands« zur Philosophie der Aufklärung, die nirgends an das zentrale Problem eines vom Verfasser vorausgesetzten »esprit autrichien« heranführen.

Die Schrift von E. Weinberg über die österreichischen Ortsnamen und ihre Bedeutung <1936, 469> ist für den Historiker wertlos. Die Literatur ist unvollständig, so zum Beispiel fehlen die Ortsnamenlexika von Schiffmann und Zahn, für Tirol die Arbeiten Tarnellers, Steinbergers und Battistis. Aber nicht einmal die von Weinberg angeführten Arbeiten sind für die gegebenen Erklärungen wirklich ausgenützt. Die Tendenz der Schrift wird deutlich, wenn Weinberg Ortsnamen aufzählt, die im Deutschen Reich vorkommen, in Österreich aber fehlen, während es sich in Wirklichkeit nur um auf bestimmte deutsche Landschaften beschränkte Ortsnamen handelt, die in anderen deutschen Landschaften innerhalb des Altreichs ebensowenig nachweisbar sind wie in Österreich.

R. Meister schildert den Werdegang der philosophischen Fakultät der Universität Wien < 2718> von der Artistenfakultät des MA., den Einbruch humanistischer und mathematischer Studien, den Übergang an die Jesuiten, den Wandel zur


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staatlichen Lehranstalt im 18. Jh., die grundlegende Reform unter dem Grafen Leo Thun, die die philosophische Fakultät seit 1850 endlich auch zur wissenschaftlichen Forschungsstätte erhob, und ihre weitere Ausgestaltung im ausgehenden 19. Jh.


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