II. Gesamtdarstellungen.

Die Berichtszeit ist durch eine Fülle von Gesamtdarstellungen gekennzeichnet, die sich aus den verschiedensten Lagern herschreiben. Noch ist über einige Versuche zu berichten, die Geschichte der Tschechen und Slowaken als Einheit zu betrachten, obwohl es sich, wie die Gegenwart überzeugend lehrt, um zwei klar geschiedene Völker handelt. Obwohl der kurze Abriß tschecho-slowakischer Geschichte von Odložilik < 77> auch noch von jener seit 1918 üblich gewordenen Grundanschauung ausgeht, zeichnet sich seine knappe Darstellung doch durch die Verarbeitung der aufgelaufenen Sonderarbeiten aus. Der Einteilung in Altertum, Mittelalter, Neuzeit, wobei er das Mittelalter mit Karl IV. beginnen und mit dem zweiten Drittel des 18. Jh.'s enden läßt, wird man sich nicht unbedingt anschließen müssen. Um die offizielle Auffassung der tschecho-slowakischen Geschichte auf breiterer Grundlage darzustellen und dabei Historiker wie Politiker zu Worte kommen zu lassen, veröffentlichte 1936 der Tschechoslowakische Nationalrat sein reichbebildertes Werk: »Idee des tschecho-slowakischen Staates« < 34>. Grundgedanke des Werkes ist, daß der tschecho-slowakische


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Staat von heute schon durch ein volles Jahrtausend vorgebildet worden sei, so daß die Darstellung auch mit der Zeit Samos einsetzt. Mag das böhmische Territorium machtpolitisch noch so sehr aufgebläht worden sein, so wird darin doch auch die Verkörperung von Humanität und Demokratie erblickt. Gerade dieses auch stark der Gegenwart und Zukunft gewidmete Werk vereint nochmals die große Zahl von Fiktionen und Illusionen, von denen sich das tschechische Volk wird gründlich befreien müssen, wenn es zum wahrhaften Volksgedanken vorstoßen und von diesem aus ein neues, gereinigtes Geschichtsbild aufbauen will. -- Stellung zu Kroftas Auffassung der tschecho-slowakischen Geschichte nimmt nun auch Tapié < 107>, auch wenn er an die Grundgebrechen dieser Konstruktion nicht nachdrücklich rührt. Bedenklich stimmt T.s Meinung, die klar bezeugte Geschichte der Sudetenländer beginne erst mit dem Einwandern der Slawen. -- Obwohl Kroftas Sammelband »Wir waren unter Österreich« < 48> keine geschlossene Darstellung der sudetenländischen Geschichte enthält, so vereinigt er doch in ihm Beiträge, die größere Zeitabschnitte der tschechischen, slowakischen und karpatoukrainischen Geschichte umfassen, aber auch der sudetendeutschen Geschichte gewidmet sind, wobei überall seine von deutscher Seite oft abgelehnte, deutschfeindliche Konstruktion der tschecho-slowakischen Geschichte zum Durchbruch kommt. -- Aufsätze aus den verschiedensten Zeiten der sudetenländischen Geschichte vereinte auch Novák < 72> in einem Sonderbande, den er »Geist und Volk« überschreibt und in dem der Wille, viele Kulturerscheinungen für sein Volk zu beanspruchen, ebenso vorherrscht wie das Streben, fremde gedankliche Einflüsse und Vorbilder wie die Rassenforschung der Deutschen abzulehnen. --Werstadt < 119> unternahm schließlich den aussichtslosen Versuch, in einem Überblicke über die Philosophie der tschechischen Geschichte das Lebenswerk und die Grundgedanken eines Palacký, Masaryk und Pekař auf einen Nenner zu bringen.

Die Ernte an Gesamtdarstellungen auf sudetendeutscher Seite ist besonders reich. Zunächst fanden die Versuche, Gesamtbilder der sudetendeutschen Geschichte zu zeichnen, ihre Fortsetzung. Vor allem Schmidtmayer <1936, 295> gelang es, die sudetendeutsche Vergangenheit volkstümlich und dabei doch sachlich gegründet darzustellen, so daß durch dieses Buch das Wissen um das Sudetendeutschtum in weite Kreise getragen wurde. Pfitzners »Sudetendeutsche Geschichte« erschien 1937 bei Kraus in Reichenberg in erweiterter zweiter Auflage. Einen wesentlichen Beitrag zur gesamtsudetendeutschen Geschichte stellt die Festschrift zur 75-Jahr-Feier des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen <S. 14, Nr. 231> dar, zu der eine große Zahl zuständigster Fachleute große und vielfach in die Tiefe dringende, neue Fragen aufrollende Beiträge beigesteuert hat. Von der Frühgeschichte ziehen sie sich bis an den Rand der Gegenwart und lassen nur geringe zeitliche Zwischenräume oder sachliche Lücken offen. Da jeweils auch noch der notwendige wissenschaftliche Apparat mit angeführt wird, gewinnen diese Beiträge, deren Grundgehalt zum Schluß nochmals zusammengefaßt wird, eine besonders hohe Bedeutung. -- In diesen Zusammenhang darf auch die Festschrift für W. Wostry <S. 14, Nr. 232> gestellt werden. In dieser war zwar nicht eine halbwegs geschlossene Gesamtdarstellung sudetendeutscher Geschichte beabsichtigt worden. Tatsächlich vereint sie aber thematisch enger begrenzte Beiträge, die durchaus der Geschichte der Sudetenländer zugehören. Auf sie wird im einzelnen zurückzukommen sein. --Krebs-Lehmann


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<S. 20, Nr. 355> legen ein von heißer Heimatliebe getragenes und von reicher Erfahrung genährtes Bekenntnisbüchlein über das Sudetendeutschtum, seine Gegenwart wie Vergangenheit vor. Stark bekenntnishaft wirkt auch die Darstellung des tausendjährigen Kampfes zwischen Deutschen und Tschechen von Jung <S. 20, Nr. 356>, wobei ihm jene Abschnitte besonders gut gelingen, in denen er sein eigenes Erleben verwerten kann. -- Den Standort sudetendeutscher Geschichte trachtet im Anschluß an Gedanken K. v. Höflers Wostry <S. 20, Nr. 360> dadurch näher zu bestimmen, daß er die Lage des sudetendeutschen Volksgebiets als deutschen Grenzlandes und die daraus sich ergebenden Kräfte untersucht. Prokert <S. 8, Nr. 127> bemüht sich darum, allgemeine geschichtsphilosophische Erkenntnisse für die sudetendeutsche Geschichte fruchtbar zu machen. Namentlich weist er dabei auf die Bedeutsamkeit der Historiker des 19. Jh.'s hin.

Eine besonders köstliche Gabe reicht Fochler-Hauke <S. 80, Nr. 1515> dar, der zu den Darstellungen sudetendeutscher Gesamtgeschichte das entsprechende erdkundliche Gegenstück liefert. Dabei trachtet er die Eigenart des deutschen Volksbodens im Zusammenhang mit der menschlichen Arbeit zu schauen, so daß die fruchtbarste Verbindung mit der Geschichte hergestellt erscheint. Das Buch schreitet von Landschaft zu Landschaft fort und zeigt ihre besonderen Lebensbedingungen, eingehend die volkspolitische Lage auf. Wohltuend wirkt dabei, daß der Verfasser den Inhalt des Buches zum Gutteil erwandert und erschaut hat.

Längsschnitte durch die Geschichte der Sudetenländer und damit auch der sudetendeutschen Geschichte von Sonderseiten her bieten Cronia und Kötzschke. Cronia < 9> untersucht die Beziehungen zwischen Böhmen und Italien während eines runden Jahrtausends, wobei er freilich allzuoft an der Oberfläche haften bleibt, sich mit bloßen Aufzählungen begnügt, wo Tiefenarbeit notwendig gewesen wäre. --Kötzschke <S. 87, Nr. 1638> hingegen ging den ursächlichen Zusammenhängen zwischen böhmischer und sächsischer Geschichte während des gleichen Zeitraums nach und ließ seine Mithelfer an den verschiedensten Stellen in die Tiefe loten. Während Kötzschke die Siedlungsgeschichte zusammenfassend darstellt, läßt Leipoldt <S. 28, Nr. 517> von der flurnamenkundlichen Seite her manches Licht auf den Siedlungsvorgang fallen. Meiche <S. 27, Nr. 495> deckt die gemeinsamen Familiennamen in der sächsischen und böhmischen Schweiz auf. Schlesinger <S. 43, Nr. 809> behandelt Egerland, Vogtland und Pleißenland als altes Reichsgut gemeinsam bis zu seinem Aufgehen in den emporstrebenden Territorien. Der Bedeutung der Prager Archive für die Oberlausitz spürt Prochno <S. 5, Nr. 76> nach. Beschorner <S. 43, Nr. 813> beschreibt die Herrschaft Riesenburg bis zu deren Übergang an das wettinische Haus (1398). Für die Sudetendeutschen von besonderem Belange wird die Arbeit Frankes <S. 143, Nr. 2720> über die sudetendeutschen Studenten an der Universität Leipzig. Aus der diesen Besuch veranschaulichenden Kurve geht eindeutig hervor, daß Leipzig im Mittelalter und der frühen Neuzeit, und zwar bis zum Dreißigjährigen Kriege einen starken Anziehungspunkt bildete, während in der Zeit der religiösen Kämpfe und bei dem fortschreitenden Siege der Gegenreformation seine Bedeutung für die Sudetendeutschen zusehends sank.

Aus dem Bereiche stadtgeschichtlicher Arbeiten ist teilweise Erfreuliches zu berichten. So schloß Klier <1936, 294> vorläufig eine lang empfundene Lücke mit seinem Abriß über die Geschichte des Prager Deutschtums, in dem er besonders


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die bevölkerungsgeschichtlichen Verhältnisse eingehender berücksichtigte. In Olmütz ereignete sich der seltene Fall, daß gleichzeitig zwei Stadtgeschichten erschienen, die eine von einem deutschen, die andere von einem tschechischen Forscher. Dadurch wird es möglich, die Arbeitsweise beider miteinander zu vergleichen. Während Kux <S. 20, Nr. 363>, der letzte deutsche Stadtarchivar, sich einer rühmenswerten Objektivität auch den Tschechen gegenüber befleißigt, macht Nešpor < 68> kein Hehl daraus, daß es ihm darauf ankomme, vor allem den tschechischen Leistungsanteil an der Stadtgeschichte herauszuarbeiten. Als Ergebnis stellt sich dann bei ihm die mit der Wirklichkeit in starkem Widerstreit stehende Tatsache ein, daß Olmütz im Grunde immer eine nationalgesinnte Stadt gewesen sei, und zwar derart, daß das tschechische Element dem deutschen ungefähr die Waage gehalten habe. Beide Verfasser halten sich von der Ortschronistik üblicher Art fern. Sie trachten den Stoff zu verarbeiten und nicht nur anzuhäufen. Dabei verrät Kux den größeren Weitblick. Er nimmt von den modernen Forschungsweisen Kenntnis, wenngleich er wie Nešpor bei der Stoffeinteilung sich noch an die Herrschergeschlechter hält. Zu bedauern bleibt, daß beide in der Hauptsache mit 1918 ihre Darstellung abbrechen. Ein Vorrang des Kuxschen Buches ist, daß es Auskunft über die Herkunft des Stoffes und über den literarischen Unterbau gibt. -- Weit hinter diesen Vorbildern bleibt Th. R. Seifert mit seinem »Nikolsburg« (erschienen 1937 Nikolsburg, Bartosch, 320 S.) zurück, in dem der Stoff kunterbunt durcheinandergeworfen wird, so daß für diese Stadt noch so gut wie alles zu tun bleibt. -- Mit mehr Erfolg hat Svoboda < 100> eine Bezirkskunde des mährischen Žd'ar vorgelegt, in der eine Fülle neuzeitlichen Archivstoffes geschickt verarbeitet wird. -- Die Stadtgeschichte Mährisch-Ostraus von Drapala <S. 20, Nr. 364> war mir nicht zugänglich.


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