d) Bis zur Gegenwart.

Die letzten eineinhalb Jahrhunderte sudetenländischer Geschichte sind durch das unaufhaltsame Wachstum des Volksgedankens bei Deutschen und Tschechen als höhere Einheit gekennzeichnet, die allein das Geschehen der Gegenwart begreiflich macht. Wer daher dieses deuten will, muß weiter ausholen. Daher griff J. Pfitzner in seiner »Sudetendeutschen Einheitsbewegung. Werden und Erfüllung« (Karlsbad, Frank, 1937, 107 S.) bis in das letzte Drittel des 18. Jh.'s zurück, um das allmähliche Reifen des sudetendeutschen Einheitsgedankens aus oft unscheinbaren Ansätzen bis heute, bis zu seinem Siege zu verfolgen. Dabei zeigte sich dieser Gedanke erstmals 1848 wirksam und bereicherte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh.'s vor allem um den sozialen Gedanken. Er schildert dann eingehender, wie die sudetendeutsche Einheitsbewegung


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nach 1918 unaufhörlich an Kraft gewann und schließlich in der politischen Einheitsbewegung Konrad Henleins gipfelte. Die Entwicklung wird bis ins Jahr 1937 geführt. -- Das letzte halbe Jahrhundert wird von einer Sonderseite her auch durch Krebs' Buch »Kampf in Böhmen« umfaßt <1936, 1364>. Hier steht das Wachstum des nationalsozialistischen Gedankens und der nationalsozialistischen politischen Bewegung im Mittelpunkte der Darstellung, zu der der Verf. aus eigenem Erleben Wertvollstes beisteuern konnte. Das Jahr 1933 bildet den Abschluß des stoffreichen Buches. --Raupach <1936, 1081> ging der belangreichen Frage nach dem Verhältnis Bismarcks zu den Tschechen im Jahre 1866 nach, wobei er dessen Stellungnahme zu erklären und zu rechtfertigen sucht. Freilich wird das Endurteil auch über diese Sonderfrage von der Bewertung der Bismarckschen Einstellung zu den Ostfragen im allgemeinen abhängen. Bismarcks Aufruf an das tschechische Volk hätte eine eindringendere Interpretation vertragen. -- Über Rußlands Anteil am Ausbruch des Weltkrieges ist viel gestritten worden. Namentlich schrieb man der panslawistischen Bewegung eine große Bedeutung zu. Leppmanns < 53> Ausführungen über die Rolle, welche das russische Konsulat in Prag vor Kriegsausbruch spielte, deuten indessen darauf hin, daß das offizielle Rußland lange Zeit keine einheitliche Einstellung zu den Tschechen und zum Neoslawismus gewinnen konnte und sich erst ganz zum Schluß näher mit diesen Kreisen einließ. Daran hatte der Prager russische Konsul keinen unerheblichen Anteil.

Der Weltkriegszeit gehört nach wie vor die stärkste Beachtung durch die tschechischen Geschichtsschreiber. So führte Tobolka < 110> die Darstellung der tschecho-slowakischen Geschichte bis an das Jahr 1918 heran. Die Bände, die T. im Berichtsjahre vorlegte, behandeln die Zeit, in der T. selbst politisch tätig gewesen ist. Während des Krieges führte er ein eingehendes Tagebuch, das er der Schilderung der Weltkriegszeit mit zugrunde legte. Immerhin ist er der naheliegenden Gefahr, der Darstellung eine apologetische Färbung im Sinne seiner politischen Haltung zu geben, in der Hauptsache entgangen. In dem bekannten Streite zwischen Auslands- und Inlandsrevolutionären um das größere Verdienst am Enderfolge nimmt er mit der Auffassung, daß an diesem alle Schichten des tschechischen Volkes beteiligt gewesen seien, eine vermittelnde Stellung ein. -- Mit schwerem wissenschaftlichen Geschütz fährt Paulová <S. 70, Nr. 1328> auf, um die Rolle klarzustellen, die der tschechischen Maffia im Weltkriege zufiel. Damit rührt sie an einen Hauptherd revolutionärer Tätigkeit der Tschechen. P. breitet dabei auch das letzte, noch irgendwie feststellbare Detail aus, so daß schon dieser erste Band, dem noch zwei weitere folgen sollen, ungewöhnlich angeschwollen ist. Dadurch geht allzuoft die Übersicht verloren. Dieses Übel schleicht sich aber auch deswegen ein, weil P. zugleich die südslawische Parallelbewegung mit einbezieht. Dennoch darf man für die Fülle neuer Einzelheiten dankbar sein, die zum Teil aus Quellen stammen, die heute noch nicht allgemein zugänglich sind. -- Auch für sudetenländische Einzellandschaften sind die Weltkriegsgeschehnisse festgehalten worden. So trägt Budinský < 5> für die Kriegsjahre Mährens schätzbares Material zusammen. Coufal < 10> hinwieder schildert die Besetzung Südmährens durch die Tschechen im Herbst 1918. Da er selbst an diesen Vorgängen engst beteiligt war, stand ihm wertvolles tschechisches Material aus privaten Händen zur Verfügung. Durch die freigebig mitgeteilten Quellenzeugnisse wird Oldofredis Buch, das diese Ereignisse von deutscher Seite darstellt, wesentlich ergänzt.


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In letzter Zeit tritt auch die Nachkriegesgeschichte stärker in den Gesichtskreis der Historiker, wenngleich sie nur in Ausnahmefällen zur Zunft gehören. So erschienen ungefähr zu gleicher Zeit zwei deutsche Darstellungen der tschechoslowakischen Nachkriegszeit. Wenn man dabei H. Singule: Der Staat Masaryks, Berlin, Freiheitsverlag, 1937, 326 S., vor H. Klepetař: Seit 1918 ... Eine Geschichte der Tschechoslowakischen Republik, Mähr.-Ostrau, Kittl, 1937, 432 S., den Vorzug gibt, dann gewiß deswegen, weil er eine Schilderung nach sachlichen Gesichtspunkten bietet statt der chronologischen Aufreihung der Ereignisse, wie sie K. erwählt. S. kümmert sich mehr um die inneren Verhältnisse und Kräfte, während K. in der Hauptsache das äußere Gerüst, die Abfolge der einzelnen Regierungen, schildert und deswegen Zusammengehöriges auseinanderreißt. S. hat überdies wesentlich mehr Verständnis für die sudetendeutsche Frage aufgebracht. Freilich vermag auch er über eine bestimmte, enggezogene Grenze der Kritik nicht hinauszudringen. Sonst hätte er Masaryk eben nicht nur als den idealen Staatsmann schildern dürfen, sondern er hätte doch die Schwächen seiner Staatskonstruktion aufzeigen müssen. Immerhin tragen beide Bücher doch Tatsachen zusammen, die man sonst nicht immer rasch zur Hand hat. -- E. Strauß: Tschecho-slowakische Außenpolitik, Prag, Orbis, 1936, 164 S., bleibt mit seiner Aufzählung von Tatsachen zur Außenpolitik Beneschs durchaus an der Oberfläche haften und billigt sie ohne jede tiefere Kritik. Vom heutigen Standpunkte her wirken dann die Eklogen dieses jüdisch-sozialdemokratischen Redakteurs für Benesch -- er zählt ihn zu den »bedeutendsten europäischen Staatsmännern« und nennt seinen Pakt mit der Sowjetunion einen »großen Wurf« -- höchst eigentümlich und verweisen seine Arbeit in die zahllose Reihe der Panegyrismen. Ganz auf diesen Ton sind die Arbeiten Papoušeks < 81, 82> über Benesch abgestimmt. Denn auch ihm bleibt Benesch der überragende Staatsmann, mit dessen Wirksamkeit sich eine glänzende Seite der tschechischen Geschichte verbindet. Die Auswahl aus Beneschs Werken, die er in drei Bänden vorlegt, gestattet am ehesten, den unheilvollen Gegensatz zwischen Wort und Tat im Leben dieses Politikers zu erkennen. Wirklichkeitsnäher wirkt hingegen das Lebenswerk Kramářs < 95>, des erbitterten Gegners namentlich Beneschs, auch wenn mancher seiner Wege als Irrweg erscheint. K. war in seiner Jugend, wie aus dem von Sís vorgelegten Erinnerungsbande neuerlich hervorgeht, ein Schüler der Deutschen gewesen. Am wertvollsten für die Deutschen bleiben die mitgeteilten Tagebuchblätter aus seiner Berliner Zeit. In Sonderstudien wird K.s Tätigkeit auf der Friedenskonferenz sowie seine Einstellung zum Germanen- und Slawentum festgehalten. -- Als Weggenosse Masaryks legt Herben < 26> seine Erinnerungen vor, die in erster Linie den schließenden Jahrzehnten des 19. Jh.'s gewidmet sind. Dabei wird wiederholt auf deutsche Verhältnisse hingewiesen. Auch zu Masaryks Persönlichkeitsgeschichte trägt er manche Beobachtung bei. H. veröffentlicht auch sein Kriegstagebuch. Da er als Journalist an nicht unwesentlicher Stelle stand, vermögen seine Aufzeichnungen manchen Einblick in die Bildung der öffentlichen Meinung während des Weltkrieges zu gewähren. --Peroutka < 86> schildert in einem weiteren Bande die Ereignisse des Jahres 1920. Dieses Jahr wurde für die Sudetendeutschen deswegen besonders bedeutsam, weil jetzt die Staatsverfassung beschlossen und durch national wenig gerechte Sondergesetze ergänzt wurde. Einzug der Deutschen ins Parlament, Kampf um die Einlösung der Kriegsanleihe, nationale Stürme in Prag sind Abschnitte, die in erster Linie die Deutschen


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betreffen. Daneben drängen sich eine Fülle anderer Probleme in den Vordergrund, die den Gesamtstaat oder nur die Tschechen berührten. -- In einem umfänglichen Bande wird das Schicksal der Hauptstadt Prag im neuen Staate festgehalten < 89>. Es ist ein Sammelwerk mit höchst ungleichen Beiträgen, unter denen sich die des Stadtarchivars durch eine bestimmte deutschfeindliche Haltung unrühmlich auszeichnen. --Kalhous < 40>, der an der Wiege der tschecho-slowakischen Armee stand, ist berufen, über ihre Anfänge zu berichten. Interessant ist, daß auch die deutsche Kommandosprache eingeführt werden sollte, daß K. aber dagegen gewesen sei. Daneben finden sich auch vernünftige Ansichten, wie die, daß die Tschecho-Slowakei schon mit Rücksicht auf die eigenen Deutschen gegen Deutschland nicht Krieg führen könne. --Papoušek < 83> legte schließlich einen Band einer Chronik der tschecho-slowakischen Politik des Jahres 1935 vor, womit ein ähnliches Unternehmen begründet werden soll wie Schultheiß' Geschichtskalender.


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