VI. Sozial-, Wirtschafts- und Bevölkerungsgeschichte.

Der Erforschung des staatlichen Finanzwesens ist Pešák < 87> treugeblieben. Im Anschluß an frühere Studien untersucht er das Steuerwesen Böhmens für die Jahre 1528/29, das ihm die Gewißheit vermittelt, daß die aufgeregten und unsicheren Verhältnisse von 1526/27 auch im Bereiche der Staatswirtschaft überwunden waren. Dennoch hielt das Mißtrauen zwischen der Regierung und dem Lande weiterhin an und wurde


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auch durch die notwendig gewordene Türkenabwehr nicht aus der Welt geschafft. Steuerveranlagung und -verwaltung werden eingehend dargestellt. -- Der gleiche Pešák < 88> zergliedert das böhmische Steuerwesen ein Jahrhundert später, diesmal aber für Jahre, in denen die gesamte Entwicklung aus den Fugen geraten zu sein schien. Denn die Jahre 1620--1624 zeigen alle Spuren der Kriegswirtschaft, so daß es nicht wunder nimmt, wenn das öffentliche Steuerwesen immer wieder durch die Kriegslage und durch militärische Eingriffe störend beeinflußt wird. Namentlich Männer wie Wallenstein suchten anregend zu wirken und entfalteten gerade auf wirtschafts- und finanzpolitischem Gebiete eine große Erfahrung. -- In den Bereich staatlicher Wirtschaftsfürsorge gehört auch das Postwesen, für das Roubík < 93> einen wertvollen Beitrag liefert. Ursprünglich war die Post ganz den Bedürfnissen des Staates und Hofes angepaßt. Schließlich nahm auch der Staat die Post in seine Verwaltung. Den inneren Aufbau des Postwesens entschleiert R. bis in die Mitte des 18. Jh.'s. Eine Karte der Straßenzüge, Ausführungen über die Art der Postbeförderung und ihrer Geschwindigkeit sowie ein Verzeichnis der Postbeamten und -bediensteten geben eine Vorstellung von dem reichen Inhalte dieser Untersuchung.

Es kann angesichts der schier unübersehbaren Zahl von Arbeiten über das städtische Zunftwesen nicht überraschen, wenn wir feststellen, daß R. Wenisch: Zunftordnungen aus Stadt und Bezirk Komotau (1460--1741), (= Sudetendeutsche Geschichtsquellen, 6), Reichenberg, Kraus, 1936, 23 u. 304 S., nicht grundlegend neue Erkenntnisse erarbeitet. Derlei wird schon durch den Umstand unmöglich gemacht, daß sich für das 14. Jh. Zunftprivilegien nicht erhalten haben. Dennoch gewähren die zum Abdruck gebrachten Zunftordnungen reiche Einblicke in die verschiedensten Arbeitsgebiete. -- Der Gedanke, ein sudetenländisches Städtebuch zu schaffen, ist für das Reich bereits so gut wie verwirklicht. Sturm <S. 20, Nr. 359> entwirft hiefür einen Plan und verdeutlicht diesen durch die Darstellung des Beispiels Eger. -- Einen Gewinn erzielte die Stadt Mähr.-Schönberg durch die Heimholung ihres ältesten Stadtbuches aus dem Nachlasse Bretholz' in Brünn, ohne daß jemand zu sagen vermöchte, wie es dahin gelangt ist. Es setzt mit dem Jahre 1410 ein, ist durchweg deutsch geführt und wird so ein gewichtiges Zeugnis für die Erhaltung des deutschen Bürgertums über die Hussitenzeit hinweg, dessen Bearbeitung Harrer <S. 46, Nr. 862> übernommen hat. --Jakobovits <1936, 1739> behandelt die seit dem 17. Jh. nach deutschem Muster in Prag entstehenden jüdischen Zünfte, die allmählich zu einer gefährlichen Konkurrenz der christlichen Zünfte wurden. Es handelt sich namentlich um Seifensieder, Kürschner, Schuster, Glaser, Strumpfstricker, Tuchscherer, Zinngießer. Die Reibereien zwischen den beiden Lagern nahmen kein Ende. -- Das wirtschaftliche und soziale Leben der Bürger in den Städten des 19. Jh.'s ist von der Forschung seltener beachtet worden. Um so verdienstlicher ist es, wenn Nachtmann <S. 121, Nr. 2291> für Brünn wenigstens zum Jahre 1848 diese Lücke schließt.

Die schmächtige Arbeit Husas < 33> über die Bauernerhebungen in Böhmen um 1525 gewinnt deswegen hohe Bedeutung, weil sie zu zeigen vermag, daß der Bauernkrieg von 1525 auch auf Böhmen übergriff und in manchen örtlichen Aufständen einen Widerhall auslöste. Dabei bleibt besonders bemerkenswert, daß am nachhaltigsten von dieser deutschen Bewegung die deutschböhmischen Gebiete, voran das Elbogener Land, ergriffen wurden. Gleichläufig mit dieser bäuerlichen Unruhe gerieten auch die ärmeren Schichten der Städte, und zwar der Bergstädte,


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in Bewegung. -- Nach Art des ersten Bandes schließt Tenora < 109> die Darstellung der grundherrschaftlichen Verhältnisse auf den Gütern von St. Peter in Brünn ab. Wieder zeichnet sich dieser bis 1848 reichende Band durch Stoffreichtum aus. --Lug <1936, 2122> trägt Material zur Geschichte der Abhängigkeit der Stadt Reichenberg von seiner Grundherrschaft zusammen. --Stark <S. 121, Nr. 2287> liefert das Schlußstück seiner Arbeit »Ursprung und Aufstieg des landwirtschaftlichen Großbetriebes in den böhmischen Ländern«, das den Ausgang dieser agraren Betriebsform zum Gegenstande hat, die Verhältnisse des schließenden 18. Jh.'s umgreift und bis 1848 reicht. -- Ein eben begonnenes biographisches Sammelwerk »Erwecker der Landwirtschaft« und, wie man wohl hinzufügen darf, des Bauerntums < 6>, soll die Lebensläufe von Bahnbrechern des tschechischen Bauerntums im 19. und 20. Jh. in sich vereinen, wodurch mittelbar auch der Geschichte des deutschen Bauernstandes gedient wird. --Vilikovský < 114> erinnert mit seinem umfänglichen Buche über die Geschichte des landwirtschaftlichen Gewerbes und der Industrie in der Tschechoslowakei seit den ältesten Zeiten bis heute den Historiker an weite Bereiche geschichtlichen Lebens, die nur selten in seinen Gesichtskreis treten. Eine schier unübersehbare Fülle von Tatsachen wird zusammengetragen und durch Abbildungen bestens unterstützt. Auch an Schrifttumshinweisen fehlt es nicht. --Krejčík < 47> macht schließlich auf Grund des Rosenberger Urbars aus dem 14. Jh. Maße, Gewichte und Münzen namhaft, die in Südböhmen in Verwendung standen und die ihren Ursprung aus dem bayrischen Kulturraum nicht verleugnen können.

In der böhmischen Wirtschaftsgeschichte nimmt die Industrialisierung einen führenden Platz ein. Daher besitzen alle Arbeiten einen großen Wert, die dieses noch so wenig durchforschte Gebiet behandeln. Aubin <S. 121, Nr. 2288>, der seit langem seine Aufmerksamkeit der Entstehung der nordböhmischen Textilindustrie zuwendet, berichtet nun auf breiter Quellengrundlage erneut über ihre Anfänge im 16. Jh. --Muk < 66> hinwieder legt die Wurzeln der Industrie im Neuhauser Gebiet bloß. Besonders eingehend behandelt er die Textilindustrie seit der Mitte des 18. Jh.'s. -- Der bewährte Kenner der Geschichte der Papiermühlen, Zuman < 122>, breitet erneut sein reiches Wissen in einer Sonderstudie über die Geschichte der Papiererzeugungstechnik aus. -- Ausschließlich dem 19. Jh. widmet seine wertvolle Übersichtsarbeit über die böhmische Industrie Hoch < 27>, der zwar auf eigenes Quellenstudium verzichtet hat, aber schon auf Grund des vorhandenen Schrifttums Haupttatsachen zu erarbeiten vermag. Er will den lebendigen Menschen im Wirtschaftsleben sichtbar machen, und dieses wieder mit den geistigen Strömungen, vor allem mit dem nationalen Erwachen verbinden. Daß in seiner Darstellung immer wieder deutsche Wirtschaftspioniere, wie Liebig und Leitenberger, hervortreten, erklärt sich aus der Tatsache, daß die Industrialisierung Böhmens zuvörderst ein deutsches Verdienst ist. Das Verkehrswesen, die staatlichen Finanzen werden gebührend gewürdigt. Einen besonderen Abschnitt widmet er der Tätigkeit der Juden im Wirtschaftsleben, wobei namentlich die übermächtige Stellung der Rothschilds sichtbar wird. Er vergißt aber auch nicht die Arbeiter und ihre sozial sehr unbefriedigende Lage. In Hochs Darstellung wird auch des Böhmischen Gewerbevereins Erwähnung getan. Die Beziehungen Purkyněs zu diesem stellt Klepl < 43> besonders dar. -- Dem typischen Unternehmergeschlecht der Lannas hat Žákavec < 123> eine eindringende und umfangreiche Sonderuntersuchung gewidmet, aus der der deutsche, oberösterreichische Ursprung des Geschlechts


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-- im 18. Jh. wanderten die Lannas nach Südböhmen -- ebenso hervorgeht, wie der Aufstieg unter Adalbert I. Lanna und dem in den Freiherrnstand erhobenen Adalbert II. Lanna, der erst 1919 starb. Vor allem um die Förderung des böhmischen Verkehrswesens (Anlage von Eisenbahnen und Schiffbarmachung von Flüssen) erwarben sie sich unvergängliche Verdienste.

Den böhmischen Bergbau des 16. Jh.'s setzt Mendl <1936, 2039> mit den Auswirkungen der Entdeckungen neuer Erdteile in Verbindung und macht dabei die Schicksale des Silberbergbaus deutlich. Im Anschluß an Helboks Arbeiten ist die Volksforschung in den Sudetenländern erneut stark gefördert worden. Zatschek <S. 20, Nr. 357> zeigt eine Fülle von Möglichkeiten für die volksgeschichtliche Erforschung der älteren sudetendeutschen Geschichte auf. Auf einem Sonderfelde, der Erforschung der Volkszugehörigkeit nach Stadtbüchern und Urbaren, ist er selbst an die praktische Verwirklichung dieses Arbeitsplanes geschritten <S. 86, Nr. 1617>. Auch die Arbeit von Süss <S. 86, 1619> über die Volkszugehörigkeit der Brünner Bürger im Jahre 1348 ist aus diesen Anregungen heraus erwachsen.

In gleicher Richtung setzt Líva < 59, 60> seine früheren Studien über die Bevölkerungs- und Nationalitätenverhältnisse Prags während des Dreißigjährigen Krieges fort. Während er für Prag 1618 3395 Häuser mit ungefähr 40_000 Einwohnern errechnet, sank diese Zahl während des Krieges auf 3155 Häuser mit nur ungefähr 26_451 Einwohnern, unter denen sich 2811 Juden befanden. Diese Zahlen aus dem Jahre 1653 sahen 1703 so aus: 39_495 Einwohner, darunter 11_517 Juden. Seine Untersuchung über die nationale Zugehörigkeit der Prager Bevölkerung während des Krieges muß mit der Tatsache der unaufhaltsamen Zunahme der Deutschen rechnen, die sich vor allem wegen ihrer besonderen Fachkenntnisse unentbehrlich zu machen wissen. Sie wanderten übrigens nicht nur aus Böhmen, sondern zu einem erheblichen Teile aus dem Reich, und dabei wieder vor allem aus Süddeutschland, zu. Unter den zwischen 1590--1670 Zugewanderten befanden sich 50 v. H. Deutsche und 44 v. H. Tschechen. -- Über die Saazer Neubürger und ihre nationale Zugehörigkeit handelt ganz ähnlich Wenisch <S. 86, Nr. 1618>. Diese Stadt ist nach der Hussitenzeit durch allmählichen Zuzug Deutscher dem Deutschtum wieder zurückgewonnen worden.


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