II. Schriftkunde.

Die frühesten erhaltenen Denkmäler schriftlicher Betätigung der Germanen setzt man in das 3. nachchristliche Jh. Es ist eine Frage, die vielfach erörtert worden ist, ob die Nachricht des Tacitus, Germania Kap. 10, über die mit »notis« gezeichneten Holzstäbchen und ihre Verwendung im Orakel bereits auf die Runen zu beziehen sei und deren Vorhandensein als Buchstabenzeichen schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert beweise. Die Forschung des 19. Jh.'s hatte dazu geneigt, die Deutung der »notae« des Tacitus als Runen abzulehnen. Durch Marstrander und Hammerström hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß die Entstehung der Runen in vorchristliche Zeit zurückgehe, und die Uneinigkeit besteht jetzt wesentlich darüber, ob das Runenalphabet eine Eigenschöpfung der Germanen sei oder ob es unter Entlehnung oder Verwertung norditalienischer Schriftzeichen entstanden sei. Nach der herrschenden Auffassung können also chronologische Bedenken gegen das literarische Zeugnis des Tacitus nicht vorgebracht werden. Wohl aber wendet man ein, daß Tacitus mit dem Ausdruck »notae« nicht »litterae«, sondern nur magische Symbolzeichen ohne eigentlichen Schriftcharakter und ohne Lautwert gemeint haben könne, sonst hätte er eben von »litterae« (wie in Kap. 3 der Germania) und nicht von »notae« gesprochen. Hierzu bemerkt nun Mentz < 373> mit Recht, daß man zunächst zu fragen habe, was sich der Römer zur Zeit des Tacitus unter einer nota auf dem Gebiete der Schrift eigentlich vorstellen mußte. Durch Prüfung der durch Vermittlung Isidors überlieferten Äußerungen des C. Suetonius Tranquillus über notae und durch Prüfung der nur fragmentarisch erhaltenen Quelle des Sueton, des Kommentars des M. Valerius Probus über die Noten, kommt Mentz zu dem überzeugenden Ergebnis, daß die zeitgenössischen Leser des Tacitus unter »notae« nur die »notae vulgares« des Sueton und die gleichartigen notae publicae des Probus verstehen konnten. Das waren aber litterae, die als suspensive Kürzungen verwendet wurden, und nicht etwa Symbolzeichen. M. führt aus, daß ein so fein und knapp schreibender Schriftsteller, wie es Tacitus war, gerade mit dem Ausdruck »nota« gewisse Eigentümlichkeiten der Runen treffender bezeichnete, als er es mit dem Worte »litterae« hätte tun können. So entspreche z. B. der in der nota angewendeten Suspension die Eigentümlichkeit der Runen, daß jeder Buchstabe des Runenalphabets einen Namen trägt, dessen erster Laut den Wert des Zeichens angibt. M. kommt zu dem Schluß, daß der Bericht des Tacitus »die bisher älteste, sicherste und umfassendste Nachricht« über die Runen sei.

Drei Aufsätze behandeln vorkarolingische Schriftarten: Frau Dobiaš- Roždestvenskaja < 374> stellt den Cod. lat. F v I 7 der Leningrader Bibliothek in den Mittelpunkt einer Abhandlung über die vorkarolingische Minuskel von Friaul, über Paulus Diaconus und über dessen Historia Langobardorum (vgl. Memorie storiche forogiuliesi, vol. 25). Nach D. ist die Leningrader Hs. ein Beispiel der ältesten Stufe der friaulischen Minuskel. Die ersten 12 Zeilen des Einleitungsbriefes sind nach Auffassung von D. ein Autograph des Paulus Diaconus. Auf die sonstigen Thesen, welche die Entstehungsgeschichte der Historia


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Langobardorum betreffen, kann in diesem Zusammenhange nicht eingegangen werden. Die Vermutungen der Verf. sind reichlich gewagt.

Die sog. rätische Schrift hat in den Erörterungen um die Entstehung der karolingischen Minuskel eine gewisse Rolle gespielt. Die vollkommen entgegengesetzten Auffassungen Hessels und Schiaparellis über das Verhältnis der rätischen Schrift zur italienischen Schriftentwicklung standen sich in dieser Frage gegenüber. 1929 hatte Löffler in der Palaeographia Latina VI die Hss. St. Gallens aus der 2. Hälfte des 8. Jh.'s behandelt. Wenig später beschäftigte sich Bruckner ebenfalls mit der rätischen Schrift St. Gallens, stützte sich aber ausschließlich auf die Urkundenschrift. In der Frage, ob die rätische Schrift auf Italien eingewirkt oder ob sie von Italien beeinflußt sei, nahm er einen vermittelnden Standpunkt ein und hielt wechselseitige Beeinflussung immerhin für möglich. Nach B. wurde die karolingische Minuskel im 3. Jahrzehnt des 9. Jh.'s im rätischen Gebiet herrschend. Die Arbeit Bruckners, die 1931 in den Studi Medievali erschien, liegt jetzt als Sonderdruck vor < 375>. Löffler hatte eine Fortsetzung seines Aufsatzes vorbereitet, in der er sich unter Zugrundelegung der St. Gallener Handschriften des 9. Jh.'s ebenfalls mit der Frage der Ablösung der rätischen Schrift durch die karolingische Minuskel befaßt. Der Aufsatz wurde nach dem 1935 erfolgten Tode Löfflers von Preisendanz aus dem Nachlaß herausgegeben < 376>. Das Ergebnis der Beobachtungen Löfflers ist, daß nach einem Nebeneinander von rätischer und karolingischer Schrift diese sich im 2. Viertel des 9. Jh.'s merklich durchsetzt und um die Jahrhundertmitte vollständig durchgedrungen ist. Der Vorgang ist nach Löffler ein allmählicher und wurde nicht durch von außen gekommene Vorbilder, wie etwa die turonische Bibel St. Gallen Hs. 75 (um 800) plötzlich oder entscheidend beeinflußt. Die Ablösung der vorkarolingischen Schrift durch die karolingische Minuskel stellt sich beiden Verfassern als eine in verschiedenen Gebieten des karolingischen Reiches gleichgerichtete kalligraphische Bewegung dar. Die entscheidende Frage, ob diese Bewegung einen einheitlichen Ursprung hatte und ob sie etwa von einem einheitlichen Entstehungsort aus vorwärtsgetrieben wurde, bleibt offen.

Das spätma.'liche Gegenstück zu der Frage, wie und wo die karolingische Minuskel entstand, ist die Frage nach dem Schöpfer der Fraktur. Hier wie dort war man zunächst geneigt, das Entstehen einer neuen Schriftart mit dem Wirken einer bekannten und großen Persönlichkeit in Zusammenhang zu bringen: Alkuin sollte die karolingische Minuskel, Dürer die Fraktur geschaffen haben. Sehr unterschiedlich ist die Quellenlage. Die Meinungsbildung über die Entstehung der karolingischen Minuskel wird durch einen Mangel an Quellen, diejenige über die Entstehung der Fraktur eher durch eine Fülle vorhandener, aber nicht hinreichend bekannter Quellen erschwert. Seitdem Kautzsch 1922 in seiner Abhandlung »Die Entstehung der Frakturschrift« klar gemacht hatte, daß die Fraktur im Buchdruck zuerst 1513 in der Gebetbuchschrift und 1517 in der Teuerdankschrift des Augsburger Druckers Schönsperger als Drucktype auftaucht, um dann in Nürnberg in den zwanziger Jahren durch den Schreibmeister Neudörfer und den Formschneider Andreae das uns vertraute Aussehen zu gewinnen, und seitdem Crous diese richtige Auffassung von Kautzsch 1928 (in: Crous-Kirchner, Die gotischen Schriftarten) bestätigt und im einzelnen geklärt hatte, da wurde die Frage der Entstehung der Fraktur wesentlich eine


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Frage der handschriftlichen Vorlagen der frühesten Druckfrakturen. Mit dieser Frage hat sich zuerst Genzsch beschäftigt, der in einer Marburger Dissertation aus der Schule von E. Stengel die Geschichte der Reichskanzlei und ihrer Schriftformen in der Zeit Albrechts II. und Friedrichs III. untersuchte. Von dieser Dissertation erschien 1930 ein Teildruck. 1931 wies dann Genzsch (MÖIG 45, 1931, S. 205 ff.) nach, daß der handschriftliche Typus der Fraktur sich in der Reichskanzlei entwickelt hat und 1470 bereits fertig vorlag. Genzsch machte gleichzeitig darauf aufmerksam, daß man sich die Geschichte der frühen Druckfrakturen nicht etwa als eine Entwicklung der frühesten (Gebetbuch-)Type zu den weiteren Formen der Teuerdanktype und der Neudörfer- Andreä-Type vorstellen dürfe, sondern daß man im 16. Jh. bereits mit einer verbreiteten Kenntnis der handschriftlichen Kanzleifraktur rechnen müsse. Die Frage war also nicht, wer schuf die handschriftliche Vorlage der frühesten Druckfraktur, sondern woher stammen die handschriftlichen Vorlagen der verschiedenen frühen Druckfrakturen? In einem Privatdruck gab Genzsch 1935 eine kurze und gut durchdachte Zusammenfassung dessen, was sich mit Sicherheit über diese Fragen sagen ließ < 380>. Kurz vorher hatte Crous die Stellung Dürers zur Fraktur geklärt (Dürer und die Schrift, Berlin 1933). Bis in die jüngste Zeit (so noch bei Milchsack, Was ist Fraktur? 1918) hatte Dürer zu Unrecht als Schöpfer der Fraktur gegolten, was bereits Kautzsch richtiggestellt hatte. In neuester Zeit hat nun Bauer einen anderen Namen als den des »Schöpfers der Fraktur« bezeichnet < 382, 383>. Nach Bauer hat der Augsburger Benediktiner Leonhard Wagner die handschriftlichen Vorlagen für die beiden Schönsperger-Frakturen geschaffen, da sich in Wagners Schriftmusterbuch »Proba centum scripturarum« <vgl. 1935, 348a> auch eine Probe einer Schriftart findet, die der Schönsperger-Gebetbuchschrift sehr ähnelt. Demgegenüber betonte erneut Hessel < 381> die handschriftliche Tradition der Fraktur in der Reichskanzlei, brachte ferner neue Nachrichten über den kaiserlichen Sekretär Vinzenz Rockner, der nach dem glaubwürdigen Zeugnis Neudörfers die Probe der Schönspergerschen Teuerdanktype geschrieben hat, und hob die Bedeutung Neudörfers hervor. Wehmer < 384> stellte gegenüber Bauer die Unhaltbarkeit der frühen Datierung der Proba Wagners und damit der von Bauer behaupteten Priorität der Proba vor dem Gebetbuch fest und wies erneut darauf hin, daß die Proba ein Album merkwürdiger Schriften der Vergangenheit und Gegenwart war, niemals aber ein Vorlagebuch für einen Schriftschneider sein konnte. Es wird die Aufgabe weiterer Forschung sein, die Frage der handschriftlichen Vorlagen der beiden Schönsperger-Frakturen durch Nachforschung unter den Wiener Handschriften, Akten und Urkunden noch mehr zu erhellen und andererseits die Person und die Schreibtätigkeit des Nürnberger Schreibmeisters Neudörfer, des eigentlichen Schöpfers der Neudörfer- Andreä-Fraktur eingehender zu würdigen, als es bisher geschehen ist.


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