§ 8. Urkunden- und Zeitrechnungslehre

(R. Heuberger)

Von den in andern Abschnitten dieses Bandes besprochenen Erscheinungen des Berichtsjahres kommen für den Urkundenforscher in Betracht: Urkundenausgaben und Regesten < 205--211, 213--226, 720, 741, 746, 754, 759a, 761, 835, 853, 2362>, ein Faksimilewerk < 719> und Veröffentlichungen über Archive < 74--89>, Siegel < 413 f., 417, 419, 421 f.>, Urbare < 2111>, Briefe < 742, 757, 835> und Urkundenfälschungen < 758, 760, 822, 868, 2360>. Zatschek < 391> setzt seine Berichterstattung über die Neuerscheinungen aus dem Bereich der Urkundenlehre für die Jahre 1934--1935 fort. In einem erweitert abgedruckten volkstümlichen Vortrag behandelt Santifaller < 392> -- wenig befriedigend -- Arbeitsweise und Ziele der Urkundenforschung und berichtet im besonderen über seine sowie des historischen Seminars Breslau Leistungen und geplante Unternehmungen auf diesem Gebiet, vor allem aber auf dem Feld der Veröffentlichung urkundlicher Schriftstücke.

Gegenüber der Meinung, die Frankenkönige hätten sich von Anfang an (so zuletzt H. Breßlau; vgl. <1928, 557, S. 176>) oder seit der Mitte des 7. Jh.'s (so E. v. Ottenthal, MIÖG. 32, 190--193) viri inlustres genannt, verficht Krusch < 393> im Anschluß an die von ihm bereits früher gebilligte Auffassung J. Havets in höchst unerfreulichem Ton und mit teilweise recht gewaltsamer Begründung unter Beigabe von neun Abbildungstafeln die Ansicht, in den Merowingerdiplomen, deren Ausgabe durch K. Pertz verteidigt wird, sei die Kürzung v. inl. stets dativisch aufzulösen und erst K. Pipin habe sich infolge einer irrigen Deutung dieser Kürzung durch seine Kanzleibeamten in seinen Urkunden als vir inluster bezeichnet. Buchner < 394> versucht wahrscheinlich zu machen, daß die pseudoisidorischen Dekretalen, vor allem in der Absicht, der Kirchenpolitik des Bretonenherzogs Nominoë entgegenzutreten, im Kreis der von Erzkaplan Hilduin d. J. geleiteten Hofkapelle Karls d. K. unter besonderer Beteiligung des Lupus von Ferrières, in dem man auch den Fälscher Benedictus Levita zu sehen habe, geschaffen worden seien.

Überzeugend erweist Klewitz < 397> die Unhaltbarkeit der bereits durch M. Tangl und P. Kehr erschütterten Lehre Sickels vom Verhältnis zwischen Kapelle und Kanzlei und legt dar, daß in Deutschland, Frankreich, Italien, Sizilien und England Besorgung und Leitung des Beurkundungsgeschäftes an den Königshöfen im Früh- und Hochmittelalter Angehörigen der Kapelle anvertraut waren, und daß


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sich erst seit der zweiten Hälfte des 12. Jh.'s im Abendland Herrscher- und Fürstenkanzleien im eigentlichen Sinn entwickelten, was sich im Aufkommen des Wortes Cancellaria spiegelt. Diese Ausführungen sind, obgleich bei ihnen gelegentlich das Terminologische etwas zu stark in den Vordergrund geschoben sein dürfte, sehr aufschlußreich und sie verdienen volle Beachtung. Im Zug einer Untersuchung über die jeweils führenden Notare Heinrichs V. befaßt sich Pivec < 398>, die Arbeit des Adalbert D. beleuchtend, mit den Urkunden jenes Herrschers für S. Benedetto di Polirone (St. 3061, 3122, 3138, 3195), S. Severo in Classe (St. 3153) und S. Donato in Imola (St. 3156), wobei er als Vorurkunde von St. 3153 ein Deperditum Ottos II. und das bereits von Sickel verdächtigte St. 3195 sowie das bisher unbeanstandete St. 3156 als Fälschungen erweist. Hirsch < 399> zeigt, daß Kanzler Arnold, der dann Erzbischof von Köln wurde, drei Diplome Konrads III. (St. 3372, 3373, 3382) sowie die Vorlage eines auf seinen Namen gefälschten Stückes (St. 3383) geschrieben und teilweise auch verfaßt haben dürfte. Eine im Auszug vorgelegte Untersuchung Krupickas < 402>, deren baldige Veröffentlichung im vollen Wortlaut lebhaft zu begrüßen wäre, wendet sich den in den Jahren 1273--1378 ausgestellten Urkunden des deutschen königlichen Hofgerichtes sowie deren Schreibern und Kanzleivermerken zu, belegt für die Zeit von 1313--1376 die Führung eines Reichsachtbuches und vermag auf diese Weise ein Bild davon zu entwerfen, wie sich auf Grund der durch den Mainzer Reichslandfrieden von 1235 geschaffenen Voraussetzungen seit den Tagen Rudolfs von Habsburg und besonders unter Karl IV. beim deutschen Reichshofgericht eine leistungsfähige Kanzlei entwickelte. Zum Urkundenwesen der fränkischen und deutschen Herrscher vgl. auch 89, 381, 719 f., 745, 750, 754, 2025, 2029, 2114.

Während Gallo < 395> der Cassineser Überlieferung der südlangobardischen Fürstenurkunden nachgeht und dabei auch auf Petrus Diaconus zu sprechen kommt, vertieft Hasenritter < 400> mit einer gründlich gearbeiteten Doktorschrift sehr wesentlich unsere Kenntnis von Urkunden und Schreibern Heinrichs des Löwen. So kann er feststellen, daß diese Urkunden ihrer Schrift nach nur zu etwa einem Viertel und ihrem Diktat nach zu einem nicht viel größeren Teil von Ausstellerseite stammen, daß der Herzog aber doch in den Jahren 1161--1171 drei Schreiber zugleich beschäftigte und daß von ihm 8 oder 9 Siegelstempel nachzuweisen sind, von denen in den Sechzigerjahren drei nebeneinander in Gebrauch standen. Zu den Urkunden weltlicher Fürsten vgl. auch 77, 421, 755, 2127 f. Zu den Bischofsurkunden 419, 721. Zum Offizialat 2340. Zu den Urkunden und Schreibern der Klöster 375 f., 379, 756, 2353, 2357, 2359, 2378. Zum städtischen Urkundenwesen, zu den Stadt- und Gerichtsbüchern 413, 473, 862, 2044, 2075, 2081, 2099, 2116.

Den Männern, die unter Leo I., Felix III., Symmachus I., Vigilius I., Honorius I., Johann IV., Gregor II., Gregor III., Zacharias, Nikolaus I., Hadrian II. und Johann VIII. als Verfasser von Papstbriefen tätig waren, widmet Ertl < 396> eine sorgfältige Untersuchung. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt in ihrem zweiten Teil. Hier wird gezeigt, daß der schon von Nikolaus I. als Geheimsekretär verwendete Anastasius unter Hadrian II., nunmehr zum Bibliothekar ernannt, zahlreiche päpstliche Schreiben verfaßte und ihren Inhalt sehr wesentlich bestimmte, daß er auch noch unter Johann VIII., freilich ohne dessen Politik zu beeinflussen, als Briefdiktator wirkte, und zwar vielleicht auch noch nach der Ernennung des Zacharias von Anagni zum Bibliothekar (März 879), die gewöhnlich als Anzeichen dafür betrachtet wird, daß Anastasius damals bereits tot war. An diese Darlegungen,


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die naturgemäß nicht durchwegs zu unbedingt gesicherten Ergebnissen führen konnten, schließt sich ein Exkurs über Anastasius Bibliothecarius als Verfasser des Briefes K. Ludwigs II. an K. Basilios I. Einen äußerst wertvollen Beitrag zur Geschichte der hochma.'lichen Papstkanzlei legt v. Heckel < 401> vor. Er bespricht die beiden ältesten, bisher von den Urkundenforschern nicht beachteten Überlieferungen der ältesten päpstlichen Kanzleiordnung (in der Sammlung des Alanus und in der Collectio Abrincensis) und begründet in durchschlagender Weise seine Meinung, der älteste Teil jener Kanzleiordnung sei nicht, wie Tangl annahm, unter Coelestin III., sondern erst unter Innozenz III. entstanden. Im Rahmen dieser Beweisführung und über sie hinausgreifend wird Wichtiges über die Entwicklung des Vizekanzleramtes und des Abbreviatorenkollegs wie auch über die Behandlung der Petitionen gesagt und namentlich auf breitester Grundlage die Stellvertretung des Kanzlers in der Zeit von 1105 bis zum Tod Innozenz' III. behandelt, wodurch die diesbezügliche Darstellung Bresslaus als irrig erwiesen und durch eine besser begründete ersetzt wird.

Aus dem Bereich der Zeitrechnungslehre ist eine ertragreiche Abhandlung Jansens < 403> zu verzeichnen, die an Hand der einschlägigen liturgischen Bücher des Spätma.'s den Festkalender des Hochstiftes Kammin bespricht. Der Wert dieser Arbeit liegt vor allem in dem Nachweis, daß in bezug auf die Feier kirchlicher Feste die Bistümer Kammin, Magdeburg, Brandenburg und Havelberg ein Sondergebiet für sich bildeten, was sich aus ihrer geschichtlichen Entwicklung erklärt. Die von J. gefundenen Ergebnisse und verschiedene seiner Hinweise besitzen eine über den Sonderfall hinausgehende Bedeutung und müssen in Hinkunft bei Untersuchungen über die Verbreitung von Kirchenfesten wie auch bei Veröffentlichung ma.'licher Kalendarien berücksichtigt werden.


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