IV. Wie in den vergangenen Jahren hat auch diesmal die germanische Altertumskunde in allen ihren Teilgebieten Bearbeitung gefunden. Die Beiträge der Prähistorie sind ausgesprochen formenkundlich aufgebaut und haben lediglich die Probleme der Siedelungs- und Bevölkerungsgeschichte zum Gegenstand. Dasselbe Ziel schwebt den Althistorikern vor, die sich auf die Schriftquellen gründen. In den Veröffentlichungen von vorwiegend germanistischer Einstellung kommt dagegen die Verschiedenartigkeit der Plattform sowohl wie der Bewertung wiederholt zum Ausdruck, doch kann man im ganzen auch hier das Fortschreiten der allgemeinen Beruhigung feststellen.

Das von H. Schneider herausgegebene Sammelwerk < 658> vereinigt die Beiträge von acht Mitarbeitern, welche Volkstum und Wanderung (S. Gutenbrunner), Umwelt und Lebensform (W. Mohr), Kriegswesen und Seefahrt (H. Kuhn), Staat und Gesellschaft (F. Genzmer), Sitte und Sittlichkeit (H. Kuhn), Glauben (H. Schneider), Dichtung (H. de Boor), Schrift (K. Reichardt) und Kunst (W. von Jenny) behandeln. Das Buch »wirbt für eine heute nicht gebräuchliche Auffassung des Begriffes 'Germanisches Altertum'. Fürchteten wir nicht Verwirrung, so würden wir sagen: klassisches germanisches Altertum. Wir treten damit ein für eine Verengerung des Begriffes, der sich erst vor kurzem gewaltig geweitet hat. Die urgeschichtliche Wissenschaft mit ihren überraschenden und aufrüttelnden Ergebnissen hat uns bereits daran gewöhnt, den Begriff 'germanisch' auf ferne Jahrhunderte und Jahrtausende auszudehnen. Ihre Siegessicherheit erhob Einspruch gegen den Begriff germanische Vorgeschichte; alles, meinte sie, liege jetzt in so klarem Licht, daß eine erste Geschichtsepoche an den Anfang zu stellen sei, eben das germanische Altertum. Wir halten demgegenüber fest an der Trennung zwischen Vorgeschichte und Altertum. Denn dieser Unterschied wird sich nie verwischen lassen: die Vorgeschichte ist vorzüglich eine Wissenschaft der Gegenstände, die Altertumskunde soll eine Wissenschaft auch des Geistes und in erster Linie des Geistes sein. Gewiß muß diese weithin auch mit Bodenfunden arbeiten, und jener wird man am allerwenigsten den Vorwurf machen, sie habe über den Gegenständen versäumt, nach dem Geist früherer Zeiten zu fragen. Eher müßte der Vorwurf lauten: sie antworte auf diese Frage mit zuviel vermeinter Sicherheit. Zeiten, die noch stumm bleiben, denen nur der Bodenfund eignet und nicht auch die Aufzeichnung, werden ihr Innerstes stets bei sich behalten. Das klassische Altertum Griechenlands ist nicht die Zeit von Mykenä und Kreta. Dieses Buch hat also nicht das Streben, die Vorgeschichte Germaniens, die so unendlich groß und reich ist, mitzuumfassen oder gar entbehrlich zu machen. Eine Darstellung der Vorgeschichte als Schwesterbuch zu diesem ist geplant und bleibt vorbehalten. Wir schreiben hier nicht das erste Kapitel der Geschichte des Germanentums, wohl aber des germanischen Geistes.«


S.215

Diese sehr beachtenswerten Worte mögen die Prähistorie mahnen, an die Grenzen des mit ihren Mitteln sicher Erreichbaren zu denken und auch an das viele Nichterreichbare, das jenseits von ihnen liegt. Zweifellos haben äußere Entwicklung des Faches und große Ausweitung seines Wissensbereiches eine Atmosphäre erzeugt, welche eine »Siegessicherheit« hervorzurufen geeignet ist. Und ferner bringt es die Beschränkung auf den eigenen Stoff mit sich, daß die Fühlung mit den Nachbargebieten, insbesondere mit der Germanistik, erst noch sehr des Ausbaues bedarf. Allerdings möchte man in der von Schneider unternommenen Trennung von Vorgeschichte und Altertumskunde weniger eine solche zeitlicher Art sehen, als den Unterschied beider in ihrer besonderen Fragestellung suchen, wenn auch die Beschränkung der Schriftquellen auf die jüngeren Abschnitte es notwendig mit sich bringt, daß das Schwergewicht der genannten Arbeitsbereiche eine zeitliche Abfolge ergibt. Geschichte und Altertumskunde werden ja immer nebeneinander bestehen, weil die von ihnen festzustellende Kausalität im ersteren Falle eine solche des zeitlichen Nacheinanders ist und im letzteren diejenige der Lebensäußerungen ein und desselben Volkstums.

Naumann < 660> geht davon aus, daß bei den Germanen genau so wie bei anderen Völkern »das Problem des Königtums und das Problem des Glaubens an die persönlich aufgefaßte Gottheit von Anfang an nicht zu trennen sind«, und daß sein Thema deshalb eine politische und eine magische Seite habe. »Auch im Germanischen stehen beide Institutionen von Beginn an vollendet da, von Grund aus gegeben und in einer bestimmten Art von Zusammengehörigkeit. Nur die politischen Dimensionen vergrößern sich langsam oder -- meist seit der Völkerwanderung -- ruckweise vom Sippenvater über das Gaukönigtum zum Großkönigtum.« In seiner Studie über »Krieg und Politik von Deutschen in früher Zeit« behandelt W. Elze < 2201> die Züge der Kimbern und Teutonen, die im Doppelangriff auf Italien gipfeln, die Vesper im Teutoburger Wald und das Schicksal des Wandalenreiches in Nordafrika. »Die geschilderten Unternehmungen und Taten deuten mit ihrer Weite und ihrer inneren Gesetzmäßigkeit wie der Kühnheit ihrer Durchführung voraus in die Zeit der vollkommenen Beherrschung von Krieg und Politik durch die Deutschen im Dienste eines hohen Lebens.« Zwei Darstellungen gelten der germanischen Götterwelt. Diejenige v. der Leyens < 664> ist überall auf die Zeugnisse selbst gegründet und umfaßt die ganze Zeitspanne vom Neolithikum bis zu den Wikingern. »Die Fragen nach dem Glauben der Arier (der Indogermanen), nach den Einwirkungen der Kelten und Römer, nach den Erschütterungen in den Jahrhunderten der Völkerwanderung verlangten besondere Aufmerksamkeit.« Die Einleitung behandelt den nicht immer geradlinigen Weg, den die Erforschung der germanischen Religionsgeschichte gegangen ist. »Die Wissenschaft sucht heute die germanischen Götter mitten in ihrer Welt: ihre völkischen Voraussetzungen, ihre ständischen Gliederungen, ihre ganze Kultur und ihre ganze Kunst, ihre jahrtausendalte, leidenschaftliche und bewegte Geschichte möchte sie erkennen. Die Welt des alten Glaubens und die Welt der alten Götter werden, das dürfen wir heute hoffen, größer und mächtiger, als sie es vorher waren. Auch für unsere Zukunft können sie eine Kraftsteigerung und einen Lebenswert bedeuten, den sie für die Vergangenheit nicht bedeuten konnten.« Steht hier der


S.216

Werdegang der Götterwelt im Vordergrund, so bei Schneider < 665> das Verhältnis des Germanen zu seinen Göttern. »Wie hat der Germane seine Götter empfunden und erschaut, gedacht und geglaubt, wie im Verlauf seiner Geschichte umgeschaut und umgedacht? Wie die griechische, so wird auch unsere germanische Götterwelt ihre volle Farbe und Fülle nur gewinnen können, wenn sie mit zweierlei Augen betrachtet wird: mit denen des Glaubens und der Kunst -- bei den Germanen: der Dichtkunst.« Schmieder < 666> führt seine bereits gekennzeichnete Betrachtung <1937, 640> weiter. »Der erste Band erbrachte den Beweis, daß die seit über hundert Jahren herrschende Meinung, wonach die Edda eine germanische Götterlehre überliefern soll, unhaltbar geworden ist. Der zweite Band wagt den Versuch, die Eddaüberlieferung mit den Augen des Geschichtsforschers zu betrachten.« Die Analyse des Textes ergibt für den Verf. ein abgerundetes Bild der germanischen Urzeit. »Dreitausend Jahre vor der Zeitwende gab es schon ein germanisches Volk, aus dessen Schoß sich alle die Völker ergossen haben, die Südeuropa und Südasien einer neuen Kulturblüte entgegengeführt haben. Damit aber gelangen wir zu der Überzeugung, daß die Germanen die Kulturträger nach der letzten Eiszeit in alle Welt gewesen sind.« Müller < 667> stellt fest, daß die Stadt der Italiker ursprünglich ein Heiligtum war, und daß »sich diese Anschauung mit dem Einsetzen der Nachrichten bereits weitgehend verflüchtigt hat. Im germanischen Raum ist der Zerfallsprozeß sehr viel weiter vorgeschritten beim Beginn schriftlicher Nachrichten«. Nur die Ausrichtung von Straßen und Wegen nach dem Sonnengang erinnert in ma.'- licher Form an die ältere Glaubenswelt, und ebenso der Kultturm oder die Kultburg, die mehr sind als nur eine Verteidigungsanlage. »In welches Uralter diese gedanklichen Architekturen zurückgehen, zeigen die Ableger nordischer Kultur im Süden.« Serner < 668> behandelt die erste Form des Großsteingrabes in allen ihren räumlich und zeitlich bedingten Abwandlungen. Zum Problem der Germanenbekehrung liegen einige Beiträge < 2591 bis 2595> vor. Die kleine Schrift von J. Reil, Die Externsteine als Denkmal ma.'licher Frömmigkeit (Leipzig, L. Klotz, 27 S., 6 Abb., 8, 1,20 RM.), lehnt die neueren Deutungsversuche des altheiligen Platzes ab. »Unser Felsengebilde ward zur erlesenen Stätte, den deutschen Menschen im Mittelalter in feierlicher Gedächtnisstunde von Tod und Auferstehung des Herrn der Welt die Schönheit und Kraft göttlicher Wirklichkeit in inniger Lebensgemeinschaft mit dem Heiland aller Menschen zu schenken.«

Eine G. Neckel gewidmete Festschrift < 392> vereinigt eine Reihe runenkundlicher Beiträge, von denen derjenige von H. Arntz über Wilhelm Grimm und die deutschen Runen in die Geschichte der Erforschung dieser Denkmälergruppe einführt. W. Krause handelt erneut über Runen als Begriffszeichen, und H. Kuhn versucht, auf dem Wege über die Sprache das Alter und den Ursprung der Runenschrift zu ermitteln. Den in den letzten Jahren erschienenen Darstellungen der Runenkunde fügt H. Arntz < 393> eine weitere an. In Aufsatzform behandelt derselbe < 394> das Problem der christlichen Runendenkmäler auf deutschem Boden. Die Runenschrift, ursprünglich kraftgeladen und im Dienste des Zaubers stehend, wird mit der Zeit zur Lautschrift. In die ursprüngliche Runenschrift »christliches Gedankengut hineinzutragen, mußte sie ihres eigentlichen Inhalts berauben«, und so bedurfte es


S.217

langer Zeit, bis sie von der Kirche in ihren Dienst genommen wurde. In Skandinavien wie in England gibt es christliche Runeninschriften, die »außer der Schrift gar nicht runisch sind«. Bei den Friesen bleiben die Runen heidnisch, wie ja das Christentum spät zu ihnen kommt, und »alle alamannischen Denkmäler sind vorchristlich, obgleich teilweise bedeutend jünger als die fränkisch-langobardisch-thüringischen«. Dagegen sind die Runeninschriften aus dem Gebiet der drei letztgenannten Stämme mit einer einzigen Ausnahme »nicht nur dem Inhalte nach christlich, sondern auch dem Geist ihrer Träger nach. Aber wie die Zeichen aus der alten Zeit übernommen sind, so sind auch die Wünsche die gleichen geblieben; und daß man mit der Einritzung auf das Schmuckstück schon dieses selbst zum Talisman macht und dem Wunsch auch Erfüllung sichert, ist bestes, gläubiges Heidentum -- und germanisches Frühchristentum: auch der christliche Gott läßt sich zur erwünschten Tat zwingen durch heilige Handlung und heimlichen Spruch.« W. Gaerte (Beiträge zur Sinnbildforschung, Königsberg Pr., Gräfe und Unzer, 57 S., 109 Abb., 1,80 RM. = Sonderdruck aus Prussia 32) knüpft seine Deutungen teils an skandinavisch-bronzezeitliche Felsenbilder, teils an norddeutsche Fundstücke an. Die von Altheim < 396> herausgestellten spätrömischen Schildzeichen »nehmen von den germanischen Auxilien des Reichsheeres ihren Ausgang. Das Hörnerwappen der Auxilien entstammt dem germanischen Norden. Es ist als Formtypus nicht von anderer, keltischer oder vorderasiatischer Seite übernommen, sondern eigengermanischen Ursprungs; die Stiermaske des kämpfenden Kriegers erscheint im germanischen Bereich selbst.« Die Odalrune begegnet auf dem Wappen eines in Speier stehenden Truppenteils, welcher, der lokalen Rekrutierung entsprechend, von Nemetern gebildet wird. Sollte diese Odalrune der Nemeter noch in die Zeit vor ihrer Keltisierung, also etwa in diejenige ihrer Einwanderung unter Ariovist, fallen, dann könnte man sich vorstellen, daß die Runen auch auf dem Wege rheinabwärts nach dem Norden gelangt seien. Die Darstellung Adama van Scheltemas < 670> geht von der Vorstellung aus, »daß die Kunstforschung niemals unserer Volkskunst in ihrer eigentümlichen geistigen Erfüllung und Beschränkung gerecht werden kann, solange sie sich nicht aus der Kunst unserer Vorzeit einen klaren Begriff der naturverbundenen künstlerischen Gestaltung zu bilden sucht. Erst durch den Vergleich mit unserer Vorzeit wurde uns deutlich, daß die Volkskunst in der Tat ganzheitlich geartet ist, weil sie in allen einzelnen Gattungen durch die gleiche geistige Struktur, das gleiche vorzeitlich-bäuerliche Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt bedingt wird. Nur unsere altnordische Kunst kann darüber belehren, daß die Ablehnung der freien Naturdarstellung und das um so stärkere Bekenntnis zur schmückenden Ausstattung einer ganz besonderen, frühen Lebensstufe des nordischen Menschen entspricht, genau so wie die Pflege des im Naturkult wurzelnden Gruppentanzes, der offenen, naturverbundenen Raumgestaltung, der im Grunde bildlosen Mal- und Geräteplastik. Die hier wiederholt herangezogenen vorgeschichtlichen Parallelen zu unserer Bauernkunst sollen nicht so sehr eine ununterbrochene Überlieferung seit der Vorzeit bezeugen, als vielmehr die Tatsache, daß ein gleiches und in der gleichen Lebensform wurzelndes Kunstwollen zu den gleichen Ausdrucksformen drängt, damit allerdings auch die traditionelle Beibehaltung so mancher in der Vorzeit gewonnener Kunstformen ermöglicht. Nicht zuletzt

S.218

dürfte sich aus der Betrachtung der altgermanischen Kunst in ihrer Auseinandersetzung mit der Antike ein klares Verständnis ergeben für die Art und Weise, wie das Landvolk auf die städtisch-bürgerliche Kunst der Neuzeit antwortet und in der Umgestaltung der fremden Vorlagen seine schöpferische Eigenart wahrt.«

L. Schmidt < 671> baut nach wie vor in erster Linie auf den Schriftquellen und bietet damit dasjenige Gerüst, das nun die Archäologie mit den Einzelheiten zu umkleiden hat; bei Petersen < 673> stehen Formenkreise und Bevölkerungsgeschichte im Vordergrund. Ein Problem des germanischillyrischen Grenzverlaufes in der Bronzezeit rollt E. Sprockhoff < 674> auf. Eine am Rande des germanischen Gebietes entstandene Fibelform greift rasch über ihr Ursprungsland hinaus und hat bald eine so weiträumige ostdeutsch-mitteleuropäische Verbreitung, daß diese nur von dem benachbarten nichtgermanischen Kreise getragen sein kann. Doch folgt auf diese Zeit eine solche, in welcher sich die Form im wesentlichen auf die südliche Abdachung des Hinterpommerschen Landrückens beschränkt, wo sie dann auch zum Erliegen kommt. »Kann man in der Spindlersfelder Fibel keine ausgesprochen germanische Form erblicken, so darf man sie andererseits auch nicht als ein Erzeugnis reiner Lausitzer Kultur oder des Urnenfeldervolkes betrachten.« Wie diese eine Form, so schieben sich noch andere zwischen die sicher germanische und die ebenso sicher illyrische Welt. Damit aber gewinnt die Vorstellung von einer Mischkultur an Boden, die eine Veränderung der bisher üblichen Grenzziehung zwischen beiden Völkern nach sich zieht. Als Träger dieser Mischkultur sieht Sprockhoff die unmittelbaren Nachkommen des brandenburgischen Anteiles der neolithischen Kugelflaschengruppe an, ein »kleines Volk«, das also der spätneolithischen Indogermanisierung ganz Mitteleuropas getrotzt haben soll, dann aber »von der Hochflut der Urnenfelderbewegung mitgerissen und in den mitteleuropäischen Strudel hineingezogen« wird. Liegt die unmittelbare Förderung des Wissens um ein Grenzgebiet des nordischen Kreises klar, so dürfte doch der vorgeschlagene Deutungsversuch kaum Anerkennung finden. Wenn die bronzezeitliche Südgrenze der Germanen zwischen Ostsee und Mitteldeutschland bis heute noch nicht genau bekannt ist, so deshalb, weil man ihr mit den gebräuchlichen Mitteln der Typologie nicht näherzukommen vermag. Auch Sprockhoff arbeitet ganz mit den schon vor Jahrzehnten gewonnenen, seitdem aber nicht irgendwie verfeinerten Methoden, und so gelangt er denn zu einer Konstruktion. Seine Vorstellung von dem Mischvolk, das sich Jahrhunderte hindurch behauptet haben soll, ist, von den allgemeinen geschichtlichen Erwägungen her gesehen, eine Unmöglichkeit. Wieder einmal zeigt es sich, wie hilflos die heutige Prähistorie einer »Mischkultur« gegenübersteht, und wie das einseitige Verharren auf einzelnen Gerättypen dazu führt, daß der vorgeschichtliche Mensch selbst vergessen wird. Auf diese Feststellung wäre auch dann besonderes Gewicht zu legen, wenn sich nicht noch anderwärts die Krise in der derzeitigen Typologie offenbaren würde. So klingt z. B. die Arbeit von Bohnsack < 675> in die Erkenntnis aus, daß die positiven Ergebnisse der formenkundlich gerichteten Arbeit doch in keinem rechten Verhältnis zu der aufgewendeten Mühe stehen. Und es bedeutet ein bedenkliches Rütteln an überkommenen Selbstverständlichkeiten, wenn von der allzu hohen Bewertung der Fundtypologie her die Begriffe


S.219

Volk und Stamm in Zweifel gesetzt werden. Man muß, sagt Bohnsack, angesichts der schier unlösbaren Schwierigkeit, archäologische Gruppen im Bereiche des Hinterpommerschen Landrückens mit germanischen Stämmen der taciteischen Völkertafel zu identifizieren, »die Frage stellen, ob die Übertragung der festen Stammesbegriffe späterer Jahrhunderte auf die Kulturverhältnisse der Spätlatènezeit überhaupt berechtigt ist. Es ist wenig wahrscheinlich, daß in dieser sturmbewegten ostgermanischen Wanderungszeit schon festgefügte Stämme über See fuhren und auf dem eroberten Festland damals schon ihre Reiche errichteten.« Ganz richtig, wenn ein Kritiker dieser Dissertation (O. Kunkel, Baltische Studien, N. F. 40, S. 327) auf die Hilfe verweist, die hier durch die aktualistische Betrachtungsweise dargeboten wird. »Vielleicht wäre es gut, bei der Volkskunde in die Lehre zu gehen, um einen wahrhaften Begriff von lebendigem stammlichem Werden zu gewinnen. Wir wissen sehr wohl, daß aus unserem Bereich westlich der Oder Angehörige des Swebenvolkes und östlich die burgundisch-gotischen Stämme hervorgegangen sind. Aber die neueste, als quellenkritisches Werk vortreffliche Arbeit über die 'Burgunder' muß doch gerade dort wieder ziemlich resignieren, wo wir zur eigentlichen 'Geschichtsauffassung' gelangen möchten.« Der Ausweg ist hier also besser darin zu suchen, daß man die Methoden der Typologie ausbaut, als daß unsere Vorstellungen von den Stämmen, ihrem inneren Leben und ihren Wanderungen auf die »Ergebnisse« einer unzureichend angewandten Formenkunde hin zurechtgestutzt werden. Auch Amberger < 678> und Agde < 679> vermögen in methodischer Hinsicht nicht zu befriedigen. Hier wie dort nutzt man einzelne Gerätformen, unter denen sich noch dazu indifferente Gebrauchskeramik befindet, als Zeugnis germanischer Gebietsausweitung. Mag dies Verfahren vielleicht dort noch zu verstehen sein, wo, wie in dem Fall der Treverer, nach den Schriftquellen die germanische Blutsbeimischung im Bereiche des Möglichen liegt, so doch keinesfalls in der von Agde herangezogenen Fundgruppe. Hier werden aus einem als keltisch-hallstättisch angesprochenen Stoff diejenigen Töpfe herausgesucht, welche solchen des germanischen Kreises zu entsprechen scheinen, und das Ergebnis dieser ganz willkürlichen und dazu noch sehr kleinen Auswahl sind dann »vorswebische Germanen in Süddeutschland.« Heuberger < 680> beschäftigt sich mit der von Much vertretenen These, germanische Gaesaten hätten einst im Wallis gewohnt und seien von hier aus gegen Ende des 3. Jh.'s v. Chr. in keltischen Kriegsdienst getreten. Er will zeigen, »daß keines der Quellenzeugnisse, auf die sich die sachlich höchst unwahrscheinlich Meinung stützt, im Wallis hätten schon mehr als ein halbes Jahrtausend vor dem Beginn unserer Zeitrechnung Germanen gehaust, auf das alpine Rhonetal und dessen Bewohner bezogen werden darf und daß jene Ansicht überhaupt völlig auf Sand gebaut ist.« Waller < 682> verfolgt in einem ansprechenden Fundbericht das Schicksal eines Fleckchens Erde, welches gerne als Bestattungsplatz benutzt worden ist und wo aus einem stattlichen Grabhügel der germanischen Bronzezeit noch eine mittelalterliche Burg hat werden können. Sadée < 684> zeigt, daß die kleinen, in Adamklissi und auf der Markussäule begegnenden Gefährte die typischen Wagen der Wanderzeit sind. Sie zeichnen sich durch hohe Manövrierfähigkeit und Wendigkeit aus, und eignen sich auch gut zum Aufbau der Wagenburg. »Man muß es sich wohl so vorstellen,

S.220

daß die Wagen mit den Längsseiten parallel zur Lagerfront standen und daß das Ineinanderschieben der Vorderräder sowie das Eingraben der Radschienen verhindern sollte, daß der Feind die Wagen aus der Front vorwärtszog oder zurückstieß.« Dieses Tun »setzt freilich eine Art von pioniermäßiger Ausbildung der Krieger durch ein berufsmäßig geschultes Führertum voraus. Aber gewisse völlig bezeugte militärische Tatsachen der Frühzeit sind ja anders als durch eine straffe Organisation der Wanderkrieger nicht zu erklären.«


Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938)