III. Darstellungen.

Zwei nach Themastellung und zeitlicher Abgrenzung umfassende Werke haben wir anzuzeigen: die Kirchengeschichte, die E. Amann für die von A. Fliche und V. Martin herausgegebene »Histoire de l'Eglise« beigesteuert hat <1937, 2303>, und H. Pirennes »Charlemagne et Mahomet« <1937, 732>. A. beginnt sein Werk überraschenderweise mit dem Jahr 757, mit Paul I. Wie ist es möglich, fragt man sich, die Geschichte der Verbindung des Papsttums mit dem Frankenreich, die mit Bonifatius beginnt und sich mit der Kaiserkrönung Karls d. Gr. vollendet, in dieser Weise auseinanderzureißen? Kann man denn den Bilderstreit oder die Lösung Mittel- und Norditaliens von Byzanz begreiflich machen, ohne bei Kaiser Leo III. und Gregor II. einzusetzen? Aber wenn wir näher zusehen, bemerken wir, daß es A. überhaupt wenig darauf ankommt, die Zusammenhänge der allgemeinen Kirchengeschichte darzustellen. Das Werk ist in sehr viele kleine Abschnitte zerlegt, deren Aufeinanderfolge oft willkürlich erscheint, und ebenso entbehrt die Gesamtdisposition der inneren Notwendigkeit. Außer der Schilderung der politischen und kirchenpolitischen Ereignisse finden wir Abschnitte über Wissenschaft, Dichtung, Dogmatik, Kirchenrecht, aber merkwürdigerweise nichts


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über die Frömmigkeit im karolingischen Zeitalter. Auch sonst sucht man manches Kulturgeschichtliche vergeblich. Die Darstellung ist lehrbuchartig einfach und klar, oft gar zu einfach und gleichmäßig. Sie geht an wissenschaftlichen Problemen meist vorüber, und die politischen und geistigen Spannungen des Zeitalters kommen im Gesamtzusammenhang wie im einzelnen kaum zur Geltung. Gerade deshalb, und nicht wegen der Lücken, der Stellen, die Kritik hervorrufen, und der sehr geringen Berücksichtigung der neuen nichtfranzösischen Literatur, wirkt das Buch unlebendig und kann uns nicht viel bieten. Ganz anders steht es mit Pirennes Werk. Es bringt im Wesentlichen eine Zusammenfassung der bekannten Thesen P.s über die germanischen Einflüsse im Römerreich, die Zerstörung der alten Kultureinheit der Mittelmeerländer durch den Vormarsch des Islams und die dadurch hervorgerufene Umwandlung des Westens, aus der heraus das Reich Karls d. Gr. zu verstehen sei. Diese auf- und anregenden Gedanken werden, auch wenn sie der Ergänzung und einschränkenden Kritik bedürfen, doch die Vorstellungen vom frühen MA. dauernd und tief beeinflussen. -- Für die Gesamtgeschichte des fränkischen Reiches ist ferner die sich fortsetzende Diskussion um das bekannte Buch von F. Petri <1937, 1620> bedeutsam. Doch wird darüber in anderen Abschnitten dieses Werkes berichtet <vgl. S. 307>.

Bei einem Überblick über die spezielleren Forschungen zur Merovinger- und frühen Karolingerzeit treten einige Arbeiten hervor, die ganz verschiedenen Themen gewidmet sind. -- Die Frage, wann Chlodwig die Alemannen besiegt und sich zum Christentum bekehrt habe, ist weiter behandelt worden <vgl. 1937, S. 245>. Vor allem hat F. Lot < 781> der These A. van de Vijvers vom einzigen Alemannensieg Chlodwigs und dem Übertritt im Jahre 506 energisch widersprochen, doch hat van de Vijver < 783> seine Ansicht verteidigt und aufs neue ausführlich erläutert. -- Über das Buch von R. Barroux < 785> über Dagobert I. werden wir berichten, sobald es uns zugänglich wird. -- Durch die Anfrage eines Historikers angeregt, hat P. Kretschmer < 535> versucht zu bestimmen, »wie sich die Namensform von Neustria als offenbares Gegenstück zu Austria sprachlich erkläre«. Austria ist von fränk. auster mit der lat. Endung ia abzuleiten. Zur Deutung von Neustria ist von der Form Neaustria auszugehen, aus der zu ersehen ist, daß Austria in Neustria enthalten ist. In Ne steckt ahd. niuwi, das in der Zusammensetzung zu niu synkopiert ist. »Ein Niu-Austria oder, da eu mit iu in fränkischen Wörtern lateinischer Form wechselt, Neu-Austria verlor durch Dissimilation der beiden unmittelbar aufeinander folgenden u-Diphthonge sein erstes u. Neaustria wurde mit Aufhebung des Hiat in Neustria, Niaustria in Niustria zusammengezogen.« Die merkwürdige Tatsache, daß die Franken westlich von ihren Stammsitzen liegende Gebiete »Neu-Austrien« nannten, erklärt K. mit der abergläubigen Scheu vor dem Westen. Ob diese Erklärung sich halten läßt? Der Aufsatz enthält viel Material über frühma.liche Ländernamen überhaupt. Besonders zu beachten sind die Ausführungen über Istria als eine Art Vorläufer von Austria für Österreich nach den Wessobrunner Glossen. Zur Wanderung der Bezeichnung Austria nach Osten (S. 222 f.) ist aber der unten zu nennende Aufsatz von E. Klebel < 799> S. 38 ff. zu vergleichen. -- Die Anregungen, die B. Bischoff (Über Einritzungen in Handschriften des frühen MA., Zentralblatt f. Bibliothekswesen 54, 1937, S. 173--77) gegeben hat,


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sind erfolgreich bei der Auswertung des Echternacher Kalenders des Hl. Willibrord befolgt worden, dort ist nämlich durch solche Einritzungen der Todestag Karl Martells angegeben < 768>. L. Levillain und Ch. Samaran < 789> konnten auf Grund einer Einritzung pucna in Nirac die berühmte Araberschlacht nach Niré westlich der Straße Tours-Poitiers lokalisieren. Wir erhalten zudem neue Anhaltspunkte für die Verbundenheit Karl Martells und des karolingischen Hauses mit Echternach. -- Den schönsten Erfolg, über den wir dieses Mal aus dem Gebiet der Erforschung der Karolingerzeit überhaupt berichten können, hat P. E. Schramm erzielt < 791>. Er hat die Überlieferungsgeschichte der promissio imperatoris des Kaiserordos B (Cencius I.) von 880--90 genau untersucht und in ihr das Versprechen Karls d. Gr. an Hadrian I. von 774 gefunden, das im 9. Jh. nur eine geringe Veränderung erfahren hat. Der Frankenkönig hat sein Versprechen damals nicht bloß gesprochen und beschworen, sondern es auch schriftlich an der Confessio b. Petri niederlegen lassen. Von der wiedergefundenen Formel von 774 aus versucht S., den Eid von Ponthion von 754 zu ermitteln. Er muß zwar feststellen, daß Unterschiede zwischen beiden bestehen, aber beide entsprechen dem Schema der Freundschaftsversprechen, wie es im 8. Jh. in einem Jugendbrief des Hl. Bonifatius vorkommt. Die Erkenntnisse von S. bringen einige der wichtigsten bisherigen Thesen zu Fall. In Übereinstimmung mit Heldmann und Mitteis lehnt S. die von Caspar, Haller u. a. vorgetragene Theorie von der Kommendation des Papstes in den fränkischen Königsschutz ab. Pippin hat nicht, wie Caspar annahm, einen Schutz- und einen Bündniseid, auch nicht, wie Haller meinte, dem Hl. Petrus einen Vasalleneid geleistet, sondern die promissio von 754 ist »ein nach dem Schema des Freundschaftseides gestalteter, dem Hl. Petrus, dem Papst und seinen Nachfolgern vom König in seinem und seiner Söhne Namen geleisteter Eid für Verteidigung und Hilfe«.

Die Angriffe auf die geschichtliche Größe Karls d. Gr. sind von den deutschen Historikern einmütig abgelehnt worden. Die Auseinandersetzungen über den Tag von Verden, die sich an K. Bauers <1937, 735> Versuch, ihn hinweg zu disputieren, anschlossen, sind bloß ein Nachspiel. M. Lintzel < 794> stellt mit Recht fest: »Ich glaube nicht, daß irgend jemand, der die Quellen kennt, sich durch Bauers Ausführungen hat überzeugen lassen.« Das gleiche haben auch E. Rundnagel < 796> und F. v. Klocke < 795> geäußert. Diese beiden Autoren halten auch mit aller Entschiedenheit daran fest, daß die Zahl 4500 hingerichteter Sachsen den Tatsachen entspricht, während L. sie abermals mit beachtenswerten Gründen in Zweifel zieht. Wie dem auch sei: Jene Verkleinerungsversuche haben für das deutsche Geistesleben keine Bedeutung mehr. Das zeigt sich auch in dem neuesten Versuch einer für weitere Kreise bestimmten Karlsbiographie von O. Appel < 793>. Seine einfache Darstellung bringt viel Richtiges, ohne freilich sehr in die Tiefe zu gehen und Übertreibungen und Fehlurteile zu vermeiden. So kommt er z. B. hinsichtlich des Tages von Verden zu dem gleichen unmöglichen Ergebnis wie K. Bauer. -- Ohne Fühlung mit dem wirklichen Leben des MA. hat K. Seiler <1937, 730> seine Konstruktionen über den »Erziehungsstaat« Karls d. Gr. errichtet. Sein Buch bietet daher wenig, während wir der sorgsamen Dissertation H. Rüngelers < 792> über das Karlsbild in der zeitgenössischen Annalistik usw., dem geistvollen Essay von P. Pyritz <1937, 731> über das Karlsbild Einharts und der


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Studie P. Kletlers <1937, 729> über Karl und die Grundlegung der deutschen Kultur manche Anregungen verdanken, besonders zu der Frage, wie sich germanische, christliche und antike Elemente in der Karolingerzeit auswirken. Es mag hier bemerkt werden, daß die germanische Linie neuerdings gelegentlich nicht nur zu stark, sondern auch zu grob gezogen wird. Man sieht es nicht gern, wenn das Wort germanisch ohne rechten Inhalt gebraucht wird, wenn es auf Eigenschaften phrasenhaft angewandt wird, die jede Nation für sich in Anspruch nimmt, wenn etwa Appel von dem germanischen Großreich und der germanischen Kraft und Stärke Karls redet. -- Wie schwierig es allerdings ist, das germanische Wesen im Geistigen und Politischen getreu und zutreffend zu bestimmen, zeigt sich in Ausführungen eines so wohlunterrichteten und kenntnisreichen Autors wie H. Löwe <1937, 734> über »Alchvines Frömmigkeit, christlicher Glaube in germanischer Prägung« (S. 93 ff.). Sie scheinen mir weder Alkuins Frömmigkeit noch das germanische Wesen schon ganz zu treffen. Auch der Versuch, Karls d. Gr. Kaisertum als »germanisches Kaisertum« zu charakterisieren, ist L. nicht geglückt und hat zu einer widerspruchsvollen Erklärung der Entstehung des abendländischen Kaisertums geführt. Man wird sich bei nüchterner Betrachtung davon überzeugen können, daß das Regnum Francorum wirklich ein Reich der Franken war, in dem Reichsregierung und -verwaltung tatsächlich ganz überwiegend von Franken besorgt wurden, und die Sachsen und Bayern ebensowenig in führenden Stellungen vorkommen wie Romanen. Und ebenso darf man glauben, daß das Imperium Romanum wirklich als das römische -- oder meinetwegen als das weströmische -- Reich aufgefaßt wurde. Nur war die römische Reichsidee verhältnismäßig schwach und konnte gegen die fränkische nicht aufkommen. -- Auch für andere Teile seines Buches dürfte L. nicht überall Zustimmung finden. So hat schon A. Brackmann < 802> in einer neuen behutsamen Darstellung seiner Ansichten über Karl d. Gr. und Leo III. in ihrem Verhältnis zur Südostmission kritisch bemerkt, daß L. die Einverleibung Bayerns in das fränkische Reich und den Avarenkrieg in ihrer Bedeutung für das Kolonisationswerk und die Mission im Südosten unterschätzt habe. Es soll jedoch ausdrücklich betont werden, daß trotz solcher Einwände L.s Arbeit wertvoll bleibt. Die zusammenfassende Schilderung Bayerns vor 788 bringt neue Erkenntnisse, und ganz ausgezeichnet sind u. a. die Abschnitte über die defensio ecclesiae und das imperium christianum (S. 130 ff.).

Für die Erforschung der Struktur des Karolingerreiches im 9. Jh. hat E. Klebel < 799> einen bemerkenswerten Beitrag geliefert. Im Anschluß an seine frühere Arbeit über die Ostgrenze des karolingischen Reiches <1928, 277> sucht er wider die bisherigen Meinungen das Bestehen von Herzogtümern, insbesondere von Stammesherzogtümern in dieser Zeit zu erweisen und die seiner Meinung nach übertriebenen Vorstellungen vom Zentralismus des Reiches zu bekämpfen. Er hat mit Recht den Begriff des Herzogtums weiter gefaßt, als es bisher oft geschah. Ein Herzog braucht nicht erblich die Führerschaft eines Stammes oder eines Bezirkes zu eigenem Rechte zu besitzen, sondern er kann auch ein vom König eingesetzter Beamter sein. Und solche Amtsherzöge, besonders auch für die Stammesgebiete nimmt K. für das 9. Jh. an. Seine Ansichten sind nicht ohne Widerspruch geblieben, doch wird darüber im nächsten Jahre zu berichten sein. -- Zum Schluß seien einige Arbeiten genannt, die Beiträge


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zur inneren Geschichte des karolingischen Reiches und seiner Teile liefern. Nützliche Zusammenstellungen, wenn auch nicht viel Neues zur Geschichte der sächsischen und der ostfränkischen Bistümer bieten die Dissertationen von E. Müller < 2596> und H. Sohns < 2599>. Die zuletzt genannte Arbeit hätte wesentlich gewinnen können, wenn sie sich eingehender mit der Herkunft und dem Lebensgang der Bischöfe beschäftigt hätte. In ihren Untersuchungen zur Genealogie großer fränkischer Adelsgeschlechter liegt der Hauptwert des Buches von L. Auzias < 800> über Aquitanien für die Geschichte des Gesamtreiches und auch des Ostens. Gehaltvolle Beiträge über nordwestliche und südöstliche Grenzgebiete verdanken wir F. L. Ganshof <1937, 740> und K. Lechner < 797>. G. bietet Ergänzungen zu dem Buche Sprömbergs über die Entstehung der Grafschaft Flandern <1935, 721>. Besonders ist zu bemerken, daß er Sprömberg darin zustimmt, daß Balduin I., ohne Markgraf oder dux zu sein, zur einflußreichsten Gruppe des westfränkischen Adels gehört. L. prüft die Besiedlung und Besitzverteilung in dem Raum zwischen der Donau und dem Wagram, von Kirchberg bis Stockerau, und vermag durch sorgfältiges Zusammenfügen jeder erreichbaren Einzelheit in diesem kleinen Gebiet die Bedeutung der bayrischen Hochstifte und Klöster für die Besiedlung und den Grenzschutz im deutschen Südosten recht anschaulich zu machen. [G. Tellenbach]


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