§ 34. Historische Volkskunde

(B. Schier und H. Braun)

»Daß 80 Jahre nach Riehls berühmtem Vortrag die Frage nach dem Wesen der Volkskunde als Wissenschaft uns immer noch bewegt, wollen wir nicht bedauern, sondern als Zeichen jugendfrischer Lebenskraft begrüßen; haben doch bisher alle grundsätzlichen Erörterungen die aufbauende Forschungsarbeit nirgends gehemmt.« <Georg Koch, 2119>. Selbst die Arbeit von Philippson: Die Volkskunde als Hilfswissenschaft der germanischen Religionsgeschichte < 2131>, die sich mit neueren Werken von Jan de Vries, Gustav Hübener, Otto Höfler, Lilly Weiser, Robert Stumpfl und Richard Wolfram vorwiegend ablehnend auseinandersetzt, kommt zu der Ansicht, daß man die Volkskunde wenigstens in ihrer »bestätigenden« Rolle als eine nützliche und bewährte Hilfswissenschaft der Religionsgeschichte zu Rate ziehen soll. --

Die Frage nach dem Wesen aber führt mit innerer Notwendigkeit immer wieder zur Frage nach dem Ursprung. Und wenn Georg Koch < 2119> den Versuch unternommen hat, Arndt und Goethe an den Ursprung der deutschen Volkskunde zu stellen, so meint er unter Ursprung nicht die Daten des zeitlichen Anfangs einer wissenschaftlichen Volkskunde, sondern »die Kraft oder


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besser die Kräfte, die sie einst aus verborgener Tiefe des Geistes und der Seele emporgetrieben haben.« Hier wird es wohl dabei bleiben, daß am Anfang der deutschen Volkskunde die deutsche Romantik im weitesten Sinne des Wortes steht, die in Namen verkörpert wird wie Möser, Herder, Goethe und Arndt, von dem das schöne Bekenntnis stammt: »Nicht in den Schulen suchet die Weisheit und nicht in den Priestern die Frömmigkeit ... unten bei dem Volke, in dem stillen und einfältigen Leben der Kleinen und Niedrigen scheidet die Welt sich in bestimmten Charakteren und Zeichen, da prägen sich die großen, einfachen Bilder und Gestalten des Lebens aus.« In dem noch immer tobenden Kampf um das Wesen der Volkskunde sehen wir damit Arndt ganz in die Nähe von Viktor v. Geramb gerückt, in der Meinung, »daß der volkskundliche Maßstab der Dinge eben doch die primären Erscheinungen des vulgus bleiben müssen«.

Neben Goethe und Arndt steht als geistiger Vater Riehl an der Wiege volkskundlicher Wissenschaft. In einem lesenswerten Aufsatz »Aus der Werkstatt meines Vaters« plaudert Hedwig Riehl < 2120> über den Menschen Riehl, sein Werk und seine Leidenschaften, die der Meister selbst so bezeichnete: »Musik machen, die niemand hören wollte, weite Märsche unternehmen, bei denen niemand Schritt halten wollte, und Novellen schreiben.« Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht die Beschreibung des Riehlschen Hauses in der Kaulbachstraße mit all seinem Drum und Dran. Daneben wird manch schöner Zug aus dem Riehlschen Haus- und Familienleben geschildert: Der Anteil, den der Vater Riehl an den Hausmusikabenden und den Studien seiner siebenköpfigen Kinderschar, nahm und die Vorliebe, die er für Tiere, besonders für seinen Hund hatte, dem er in der Novelle »Der stumme Ratsherr« und »Der alte Hund« ein ewiges Denkmal gesetzt hat.

Riehl war einer der ersten, der die Volkskunde nicht nur zum Selbstzweck betrieben wissen wollte, sondern der ihr große volks- und staatspolitische Aufgaben zumaß. Als frühes Beispiel der seit ihm so geläufigen Verbindung von Politik und Volkstum hat Albert Becker uns das Volksfest von Hambach geschildert < 2127>, bei dem neben dem Lied auch der Bänkelsang in den Dienst der Politik gestellt wurde. Dazu gesellte sich der Tanz, der sogenannte »Hambacher«, ein flotter Singwalzer mit sehr tanzbarer Melodie aber einem sehr verpönten Text und die Mundartdichtung. Endlich gehörte dazu das volkstümliche Beiwerk der revolutionären »Sinnbilder und Spielereien«: Die schwarz-rot-goldenen Westen und Hosenträger, die mit den Bildern der Freiheitskämpfer geschmückten Taschentücher, die mit dem Bilde des Hambacher Schlosses gezierten Schürzen und Pfeifenköpfe, die den rechten Hambacher charakterisierenden Reformhüte, Volksbärte und von anderem mehr. Wie der Aufsatz von Becker gezeigt hat, würde es sich lohnen, auch die übrigen historischen Volksfeste auf ihren volkskundlichen Gehalt zu untersuchen.

Träger des politischen Willens waren meist die älteren Generationen, Träger einer Gemeinschaft, die der Geselligkeit diente, die jüngeren Geschlechter. Sie schlossen sich auf den Dörfern meist zu Burschenschaften zusammen, die nach Marie König < 2152> drei Bereiche zu überwachen hatten: »Das Liebesleben, die Wehrhaftigkeit und die kultischen Zusammenhänge mit den alten Mächten der Natur.« Die Bünde haben ihre eigene Organisation, wählen ihre Führer, haben bestimmte Aufnahmebedingungen und -bräuche, wachen über die


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Sittlichkeit der Mitglieder und beteiligen sich an Kult und Fest. Aus den vielen verstreuten Einzelzügen, die die Verf. zusammengetragen hat, ließ sich ein verhältnismäßig deutliches Gesamtbild der Burschenschaften geben, wie sie vor 50--100 Jahren in allen deutschen Gauen bestanden haben. Wenn auch in den letzten Jahrzehnten vor und nach dem Weltkrieg viel bündisches Brauchtum und vor allem die jungmannschaftlichen Organisationsformen zugrunde gegangen sind, so muß doch mit allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß in den politischen Verbänden unserer Zeit die Organisationen entstehen, die auch in der Erhaltung des Brauchtums an die Stelle der alten Burschenschaften treten werden.

Eine Aufgabe der bäuerlichen Burschenschaften ist in bestimmten Gegenden Süddeutschlands das Haberfeldtreiben, das Zipperer < 2151> einer aufschlußreichen Betrachtung unterzieht. Er nimmt besonders gegen die ältere Auffassung Stellung, nach welcher das Haberfeldtreiben entweder als »dämonenvertreibender Lärmumzug«, als Rügezug oder als Heischegang zu deuten ist. Nach seiner Meinung ist die sittenrichterliche und kriegerische Tätigkeit als die primäre Aufgabe der jungmannschaftlichen Gemeinschaft anzusehen. Ein besonderes Verdienst des Verfassers ist es, daß er von rund 136 Haberfeldtreiben, die in Akten und Urkunden von 1923 bis in das Jahr 1717 zurück erwähnt sind, eine nähere Beschreibung gegeben hat. Eine statistische Untersuchung gibt dazu Aufschluß über Zeit und Ort des Treibens, die Zahl der Teilnehmer, der Treiber, Alter und Familienstand, ferner den Personenkreis, dem das einzelne Treiben galt, und schließlich die Gründe, welche jeweils die Veranlassung zum Haberfeldtreiben bildeten. So zieht die Geschichte des Haberfeldtreibens, das als eine der urtümlichsten Erscheinungen des bäuerlichen Brauchtums zu betrachten ist, mit lebendiger Anschaulichkeit während eines Zeitraumes von 200 Jahren vor unseren Augen vorüber.

Ein weiteres Zeugnis für den Fortbestand altgermanischen Lebensgefühls im deutschen Bauerntum erbringt auch das Buch von Heinrich Harmjanz < 2076> über die ostpreußischen Bauern, die ihr Land zu einem deutschen Bollwerk gegen den Osten Europas gemacht haben. Die standesgeschichtliche Darstellung wird durch volkskundliche Bemerkungen über die Flurverfassung und das Siedlungswesen, den Hausbau und das Wirtschaftsleben mit Anschaulichkeit und Lebensnähe durchtränkt; sie wird den ostpreußischen Bauern mit Stolz auf seine gesamtdeutsche Leistung erfüllen und das Bewußtsein seiner Ostlandsendung verstärken. Harmjanz hat auch »Das germanische Erbe in den Hauslandschaften Nordosteuropas« einer näheren Betrachtung unterzogen < 2161> und dabei im Anschlusse an Schiers »Hauslandschaften« gezeigt, daß der an Ostpreußen anschließende deutsch-baltisch-slawische Grenzraum in seinen Grundlagen von einer nord- und ostgermanischen sowie einer westgermanischen Kulturschicht bestimmt wird. In Ostpreußen hatte zunächst das niederdeutsche Haus Fuß gefaßt, wie E. Riemann durch das vergleichende Studium alter Karten feststellen konnte < 2165>. Wenn heute auch nur noch Reste niederdeutschen Hausbaues in Ostpreußen erhalten sind, so hat er hier früher doch einen verhältnismäßig großen Raum eingenommen; noch zur Zeit der Separation (also vor rund 100 Jahren), für die gute Karten vorliegen, beherrschte er zwei große Gebiete: die Weichselmündung und den nördlichen Teil des Ermlandes. Was schon die Mundartenforschung gelehrt hat, bestätigt


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nun die Hausforschung aufs neue: Ostpreußen ist vorwiegend als ein Ausstrahlungsgebiet des niederdeutschen Volkstums zu betrachten.

Eine wichtige hauskundliche Arbeit legt ferner Thomsen < 2163> über Braunschweig vor. Obwohl sich seine Untersuchung -- im Gegensatz zur Arbeitsweise des Volkskundlers -- ausschließlich auf die schriftlichen Quellen des Ma.'s beschränkt, gestaltet sie sich dennoch ertragreich, weil Braunschweig in einem bedeutsamen hausgeschichtlichen Grenzgebiet liegt, in dem der ober- und mitteldeutsche Herrschaftsbereich des Hausteines von dem niederdeutschen Verbreitungsgebiet des Backsteines abgelöst wird, und weil sich gerade bei Braunschweig der mitteldeutsche Gehöftbau und das niederdeutsche Einheitshaus gegeneinander absetzen. Aus den Ergebnissen dieser Arbeit verdient vor allem die Tatsache festgehalten zu werden, daß Braunschweig die erste niederdeutsche Stadt war, die den oberdeutschen Warmraum der Stube in ihr Bürgerhaus einführte. Damit hatte es beim Ausbau der städtischen Wohnungskultur Niederdeutschlands die Führung an sich gerissen. Nicht so ertragreich wie die Arbeit von Thomsen, dafür aber um so anregender für die noch zu leistende Forschung ist der Aufsatz von Hävernik < 2164> über den Stand und die Aufgaben der thüringischen Bauernhausforschung. Zwar sind wir seiner Meinung, wenn er das Bauernhaus Thüringens zur Gruppe des mitteldeutschen Gehöftes zählt und seine Durchbildung unter dem Einfluß von Kulturströmungen aus Hessen und Mainfranken vor sich gehen läßt, aber wir müssen ihm widersprechen, wenn er den altthüringischen Lehmbau, den Lehmverputz der Holzwände, den »Privatbackofen«, das Umgebinde Ostthüringens und selbst den Blockbau als ein Erbe slawischer Bauweise betrachten will.

Neben dem Haus ist auch die Hausmarke ein Sinnbild bodenständigen Bauerntums. Nur dort, wo sich bäuerliche Überlieferung durch die verhängnisvollen Zeiten des Dreißigjährigen Krieges und der Leibeigenschaft des 17. und 18. Jh.'s erhalten hat, findet sich noch im 19. Jh. der Gebrauch dieser alten, runenähnlichen Zeichen. Wie die zufällig in einem Vermessungsprotokoll von 1701 ff. überlieferten, von Engel < 2166> veröffentlichten Reste beweisen, hat ursprünglich in den Ämtern Gadebusch und Rehna jeder Bauernhof unter dem Zeichen einer allen Nachbarn bekannten Hausmarke gestanden. Bei der engen Dorf- und Werksgemeinschaft im Ma., in der einer dem anderen bei der Feldbestellung, beim Hausbau und vielen anderen Arbeiten des täglichen Lebens aushelfen mußte, war jedes Gerät, jeder Pflug und jeder Kornsack mit der Marke des Hofes versehen. Wenn auch die Marken damals als Besitz- und Familienzeichen ähnlich den Wappen der Ritter gebraucht wurden, so glaubt Engel doch annehmen zu müssen, daß die Bevölkerung sie im Ma. als geheimnisvolle Hilfszeichen ansah. Wenn auch den Menschen des Ma.'s die Verwandtschaft mit den alten Runenzeichen kaum noch bewußt war, so wird die Erinnerung an eine geheimnisvolle Bedeutung der von den Ahnen überkommenen Zeichen wohl vorhanden gewesen sein. Abbildungen von Hausmarken (bes. auf Schützenkönigsschildern und Waffeleisen) gibt auch Middelhoff < 2070> in seinem ausgezeichneten Buch über »Niederrheinisches Bauern- und Handwerkertum in volkstümlichen Inschriften des 16. bis 17. Jh.'s«. Dieser Arbeit kommt deshalb besondere Bedeutung zu, weil sie erstmalig das volkstümliche Inschriftengut einer deutschen Landschaft auf Tonschüsseln, Tonplatten (Fliesen und Kacheln), Steinzeug, Kupfer- und Messingdosen, Kesselhaken, Waffeleisen,


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gebrannten Glasscheiben, bemalten Flaschen, Trinkgläsern, Haubenschachteln usw. einer Gruppierung nach dem sinnfälligen Lebenskreis (Kindheit, Liebe, Ehe, Alltag, Festtag, Vaterland und Fremde) und der Welt der Gedanken (Gedanken über Wert und Unwert des Berufes, über Tugenden, über den Tod, über Gott usw.) unterzieht. Die volkspsychologische Auswertung der Inschriften aus 3 Jahrhunderten (16.--19. Jh.) hat ergeben, daß das Volk am Niederrhein stets durchaus im Diesseits verwurzelt war und sich mit Freude an alles Erdhafte hingegeben hat. Die Mittelpunkte, um die sein Dasein kreiste, waren das Haus, der Hof, der ländliche Besitz und vielleicht noch das Dorf. Für eine größere Gemeinschaft, wie sie etwa das Reich darstellte, zeigte es kein Verständnis. Fest glaubte man vor allem an eine ausgleichende Ordnung in der Welt, an die Bestrafung des Bösen und die Belohnung des Guten. Als schlimmste Laster verurteilte man Neid, Klatschsucht und Geiz. Das ganze Dasein des Volkes am Niederrhein war stark vom Religiösen bestimmt. Das Verhältnis Gott-Mensch sah man in echt ma.'licher Schau als ein Verhältnis zwischen Herr und Knecht, Lohnendem und Belohntem, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wenn auch viele Inschriften aus literarischen Vorlagen stammen, so ist das Volk doch insofern produktiv, als es eine bestimmte Auswahl trifft. In der Annahme des einen und der Ablehnung des anderen zeigt es seine besondere Geisteshaltung.

In dem gewaltig anwachsenden Schrifttum zur deutschen Volkskunst verdient das Werk von H. Karlinger < 2154> besondere Beachtung. Er stellt in dem einleitenden Abschnitt »Sinnbild und Sprache« tiefdringende Erörterungen über Begriff und Wesen der Volkskunst an und deckt in dem Wechselspiel zwischen Urformen und Zeitformen eines ihrer wichtigsten Gestaltungsgesetze auf. Gegenüber der alten Auffassung von dem nur »reproduzierenden Volk« wird auf die aufsteigende Komponente und die Tatsache hingewiesen, daß zu allen Zeiten der deutschen Kunstentwicklung entscheidende Antriebe von der Volkskunst zu der Stilkunst gelangt sind. Besonderer Wert wird auf die sinnbildlichen Elemente im Formenschatz der Volkskunst gelegt; die brauchtümliche Grundlage aller volkskünstlerischen Betätigung wird an kennzeichnenden Sonderfällen aufgedeckt. In dem Abschnitt »Werk und Gestalt« behandelt der Verfasser die großen Teilgebiete der Volkskunst, die sich um Haus und Hausrat, Keramik und Glas, Metall und Schmuck, Gewebe und Volkstracht gruppieren. Die Zweiteilung des Stoffes in Sinn und Gestalt brachte zwar gelegentlich Wiederholungen mit sich, ermöglichte es aber dem Verfasser, durch das kulturgeschichtliche Beiwerk zu den gestaltenden Kräften der Volkskunst durchzustoßen. Besonderes Lob verdienen die über 300 ganzseitigen Kunstdruckbeigaben, die in ihrer sorgfältigen Auswahl und ausgezeichneten Wiedergabe das Buch Karlingers zu einem der umfänglichsten und eindruckvollsten Bildwerke der deutschen Volkskunst machen.

Im Rahmen des von John Meier herausgegebenen Sammelwerkes »Deutsches Volkstum« hat Otto Lehmann die Volkskunst bearbeitet < 2155>. Im Sinne der Reihe hat er sich dabei nicht auf eine stoffliche Ausbreitung des Sachgutes beschränkt, sondern die Volkskunstwerke als Zeugen für die Eigenart der deutschen Stämme und Landschaften betrachtet. Es ist dem Verfasser geglückt, sehr feine Wesensunterschiede zwischen den deutschen Volksschlägen aufzudecken, wenn auch so manches angeführte Volksgut eine andere Deutung zuließe. Vor


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allem wurde die Nachwirkung der vorkolonisatorischen Slawen Ostdeutschlands überschätzt und das germanische Erbe im Formenschatz der deutschen Volkskunst zu wenig betont. Dabei hätte die leider unterbliebene Einbeziehung der grenzdeutschen Landschaften mit ihrem blühenden Volkskunstschaffen besonders klärend gewirkt. Aber bereits das Gebotene muß mit seinen feinen Beobachtungen zur Stammescharakteristik, mit seinen trefflichen Ausführungen über Bluterbe und Umwelteinflüsse, über Zeichensprache und Brauchtum und seinen sorgfältig erläuterten Bildern als eine erfreuliche Bereicherung unseres Schrifttums betrachtet werden.

Von der Volkskunst ausgehend, mit Ausblicken auf das Volkslied, die Sage, das Märchen, den Brauch usw. handelt Stiefs Buch »Heidnische Sinnbilder an christlichen Kirchen« < 2136>; es beschäftigt sich vor allem mit steinernen Bildwerken germanischer Prägung in den christlichen Kirchen Mitteldeutschlands und weist das Fortleben des germanischen Hochglaubens bis in das spätere Ma. nach. Das Buch ist aus vorzüglicher Sachkenntnis und mit warmem Verständnis für den lebensbejahenden Glauben unserer Vorfahren geschrieben; seine Probleme sind teils ikonographischer, teils volkskundlicher, teils religionsgeschichtlicher, vor allem jedoch symbolkundlicher Art. Neben Stief weist auch Wühr in seiner Schrift: »Ewiger Sinn im zeitgebundenen Sinnbild« < 2148> nach, wieviel christliche Sagen, Legenden und Sinnbilder aus völkischen Quellen genährt und lebendig erhalten werden. Im Bezirk der geistlichen Macht, von diesen Quellen abgeschnitten, müssen sie alsbald ihren Sinn verkehren, aus Sagen und Legenden werden christliche Wundergeschichten, aus Sinnbildern theologische Allegorien. Die Kirche unterwarf mithin das germanische Sagengut jenem großen Amalgamierungsprozeß, der zum Vorteil der christlichen Lehre auch den ererbten Volksglauben umgestaltete und die germanischen Glaubenskräfte in den Bann des kirchlichen Dogmas zwang. In feinsinniger Art schildert Wühr diese Entwicklung beispielsweise an der Allmutter Erde und der hl. Gertrud, an Frau Holle, der Jungfrau Maria und den guten Holden, an den Nornen und den Heiligen Drei Königen. Das Buch ist überaus reich und gut bebildert und deckt verschiedentlich neue Zusammenhänge auf.

Einen beachtlichen Beitrag zur Trachtenkunde hat Elly Schaumann < 2157> durch ihre Geschichte der Tracht in Danzig geliefert. Wenn sie auch in den vergangenen Jahrhunderten für Danzig bodenständige Kleiderformen nicht nachweisen kann, so ist ihr doch die Feststellung gelungen, daß die hier zwischen 1375--1500 herrschende Tracht die burgundische war. Zwischen 1500 und 1550 macht Danzig den Übergang von der spanisch-burgundischen Mode zu den bürgerlichen Renaissanceformen mit. Das seidene, leuchtende Wams und die Schaube aus Samt, mit Pelz besetzt, dazu die Strumpfhose darf man als die übliche Tracht der Danziger Bürger im Anfang des 16. Jh.'s betrachten. Diese Mode wurde dann wie überall auch in Danzig etwa von der Mitte des 16. Jh.'s ab durch die spanische Mode abgelöst, die bis 1650 herrschte. Das Hauptmerkmal war die Halskrause »Mühlsteinkrause«, um derentwillen man die Löffelstiele verlängern mußte. Am Ausgang des 17. Jh.'s machen sich französische Modeeinflüsse geltend, und im 18. Jh. wird die Rokokomode herrschend, die nicht nur die Standesunterschiede, sondern auch die Altersgrenzen nicht mehr berücksichtigte. Im 19. Jh. kamen verschiedene Modeströmungen auf, die


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die Mode noch mehr vereinfachten. Die Vielfarbigkeit des Rokoko verschwand, statt Seide, Samt und Brokat verarbeitet man Tuch und Leder. Reicheren Schmuck brachte erst wieder das Biedermeier, das mit allen seinen Merkmalen auch in Danzig herrschte.

Hat Schaumann mehr die städtische Kleidung beschrieben, so befaßt sich A. Hoffmann < 2158> mit der bäuerlichen Tracht der Probstei. Obgleich sie sich nur auf das 19. Jh. beschränkt, bietet auch sie dem entwicklungsgeschichtlich eingestellten Trachtenforscher reichen Stoff. Besondere Erwähnung verdient die sorgfältige Bereitstellung alter und neuer Beschreibungen, die behutsame Ausschöpfung von Testamenten und Rechnungen, die erstmalige Wiedergabe von wertvollen alten Trachtenbildern und die Veröffentlichung von sachkundig angelegten Schnittzeichnungen. Es werden nicht nur die farbenfrohen Festtagstrachten, sondern auch die Werktagsgewänder und die Hemdformen mit ihren Schnitten behandelt, aus denen hervorgeht, daß sich in Holstein der germanischbronzezeitliche Baitagedanke bis zur Gegenwart erhalten hat. Da das Buch vor allem der Sichtung und Ausbreitung des Stoffes gewidmet ist, verzichtet es darauf, entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge dieser Art aufzudecken oder die Volkstracht der Probstei im gesamtdeutschen Rahmen darzustellen. Außer über die Tracht bringt Josef Kallbrunner < 2160> auch über die Sitte im merkantilistischen Polizeistaat Auszüge, die er aus dem Codex Austriacus und anderen Patenten gemacht hat. In der Hauptsache aber handelt es sich um Vorschriften, die, wegen »unordentlicher Köstlichkeit« erlassen, den Kleiderluxus einschränken sollten. Ganz deutlich merkantilistisch eingestellt ist ein Patent des Erzherzogs Karl von Innerösterreich vom 24. Feber 1589. Hier wird nicht nur die Verwendung von Gold und Silber für Knöpfe und Schnüre, zur Vergoldung von Wagen und dergleichen verboten, sondern auch der Gebrauch italienischer und französischer Glasperlen, besonders aber »der großen weibischen Kreß« (= Hutschmuck) untersagt, »wodurch vil Leut betrogen und das Geld unnutz in fremde Lande verführt wird«.

Dem als Trachtenbestandteil wie Rechtssymbol gleich wichtigen Handschuh hat Bernt Schwineköper < 2279> eine wichtige Sonderuntersuchung gewidmet, die von P. E. Schramm mit grundlegenden Ausführungen über die Erforschung der ma.'lichen Symbole eingeleitet wurde. Als Kleidungsstück, dem die Aufgabe zufiel, die Hand zu schützen und zu umhüllen, stieg der Handschuh zum Amtszeichen und zur Insignie empor. Dann fand der Handschuh vor allem bei solchen Anlässen Verwendung, wo einst die Hand eine wichtige Rolle gespielt hat, z. B. bei Eigentumsübertragungen. Schließlich ist der Handschuh nur Herrschaftszeichen (so bei der Wadiation) oder Objekt von Rechtsformen, wenn er bei Maßbestimmungen verwendet wird. Die Beliebtheit, deren sich das Kleidungsstück als Geschenk im Brauchtum erfreute, läßt an die Anerkennungsgaben denken, die uns im Rechtsleben begegnen. Weil er zum Schutz gegen magische Wirkungen dient, wird seine Verwendung bei Berührung mit heiligen Geräten, also beim Gottesdienst nahegelegt. Die schützende Aufgabe des Handschuhs hat aber auch zu anderen abergläubischen Verwendungen Anlaß gegeben. Über der Tür angebracht oder einem Geist entgegengehalten, dient er vereinzelt als Abwehr gegen überirdische Wesen. Einzelne Bräuche haben ihren Niederschlag sogar im Erzählgut gefunden (z. B. die Tötung durch vergiftete Handschuhe).


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Wie die Arbeit von Bernt Schwineköper, so geht auch jene von Marianne Panzer von dem Rechtsleben des Ma.'s aus < 2150>. Sie stellt sich die Aufgabe, die Beziehungen von Tanz und Recht nach möglichst vielen Richtungen darzustellen und dadurch zu zeigen, daß das Recht auch in dieser scheinbar rein ästhetischen Ausdrucksform des deutschen Lebens eine bedeutsame Rolle spielt. Es wird daher das unmittelbare Eingreifen des Rechtes in den Tanz durch Tanzerlaubnis, Tanzverbot und Tanzordnung untersucht; es wird die rechtliche Stellung der tanzenden Personen beim kultischen Tanz, beim Vergnügungstanz und beim Erwerbstanz herausgearbeitet und die Beziehung des Tanzes zu den Rechtsarten, Rechtsterminen, Rechtsbräuchen und Rechtssymbolen erörtert. Eine besondere volkskundliche Bedeutung kommt den Ausführungen über die Tänze der rechtlichen Gemeinschaften, also der Burschenschaften, Mädchenverbände, Frauenbünde, Nachbarschaften, Gilden und Zünfte zu. So hellt die fleißige Arbeit mit ihren reichen Stoffsammlungen ein wenig bekanntes Gebiet der sozialen Volkskunde auf.

Zu dem Brauchtum leitet eine kurze Abhandlung von Graber < 2145> über, die alle literarischen Belege über »das Schwert auf dem Brautlager«, zusammenstellt. Nach Graber wurzelt der Brauch in dem Volksglauben, daß durch Erz und Eisen die feindlichen Mächte vertrieben werden, welche das Brautlager gefährden; er läßt sich nicht nur bei der Vermählung adeliger Personen nachweisen, sondern lebt auch noch spurenhaft in den Tobiasnächten fort. Mit dem Maibaum beschäftigt sich Mößinger < 2135>. Viele Maibäume, Dorflinden und Weihnachtsbäume, stimmen in der Dreiheit der übereinanderliegenden Kränze überein. Sie sucht M. mit den drei Welten in jenem Märchen in Verbindung zu bringen, wo ein Hirtenknabe einen Wunderbaum erklettert und zuerst in eine kupferne, dann in eine silberne und zuletzt in eine goldene Welt kommt. Wenn heute der Maibaum meist nur einen Kranz trägt, so ist das nach seiner Meinung eine »vereinfachende Verarmung«. Es bleibt jedoch gewagt, mit dieser Feststellung allein die alte Annahme, der Reifenbaum sei von der Lichterkrone herzuleiten, umstoßen zu wollen.

In die viel erörterte Frage nach dem Ursprung des Weihnachtsbaumes bringt die zusammenfassende Arbeit von Otto Huth neue Gesichtspunkte < 2133>. Der lichtergeschmückte Nadelbaum eroberte sich zwar erst im 19. Jh. sein heutiges Verbreitungsgebiet, seine brauchtümlichen Elemente aber reichen zweifellos in eine viel ältere Zeit zurück, Huth kann Baumleuchter bereits für das deutsche Ma. nachweisen, und aus verwandten Lichtersitten bei anderen indogermanischen Völkern schließt er, daß der Lichterbaum auch bereits dem germanischen Brauchtum bekannt war und im 19. Jh. eine Wiedererstehung aus germanischem Mythos gefunden habe. Ein Kernstück des Volksglaubens der Zwölfnächte, die Wilde Jagd, hat Herbert Kleist für den ostdeutschen Raum untersucht < 2130>; die stoffliche Grundlage der Arbeit bilden neben früheren Veröffentlichungen die Antworten eines Fragebogens, der in etwa 2000 Ortschaften Pommerns, Mecklenburgs, Brandenburgs, Schlesiens, der Grenzmark und Ostpreußens versandt wurde. Bei der abschließenden Erörterung über Ursprung und Sinn des Brauches wendet er sich gegen Höflers Deutung der Wilden Jagd aus dem Brauchtum kultischer Geheimbünde der Germanen; im Anschlusse an die ältere Forschung sieht er die tiefste Wurzel dieses Vorstellungskreises im Totenglauben und in der Totenverehrung unserer Vorfahren, die trotz ihres vorgeschichtlichen


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Alters auch in anderen Brauchtumserscheinungen bis zum heutigen Tag lebendig geblieben sind.

Auch im Brauchtum der Arbeit und des bäuerlichen Wirtschaftslebens bewegen wir uns noch heute vielfach in den Spuren der Vorzeit. Für die alte Bienenzucht Mitteleuropas hat dies Bruno Schier in einer Sonderuntersuchung gezeigt < 2153; erweiterter Zusammendruck Leipzig 1939, Verlag S. Hirzel>, die uns den germanischen Beitrag zu dem vielgestaltigen Bauwerk der abendländischen Kultur an einem wichtigen Geräte des Landlebens beispielhaft erfassen lehrt. Die verwirrende Mannigfaltigkeit der mitteleuropäischen Bienenwohnungen läßt sich auf drei vorgeschichtliche Wurzeln zurückführen: 1. den Rutenstülper, 2. die Klotzbeute, 3. den Strohkorb. Der Rutenstülper ist als ein Erbstück aus Europas vorindogermanischer Vergangenheit zu betrachten. Die Klotzbeute entstammt der Waldbienenzucht, an deren allmählicher Entwicklung germanische, slawische und finnisch-ugrische Völkerschaften beteiligt waren; sie erreicht in den Zeidelbetrieben Ostfrankens, der Lausitz und Ostpreussens durch die genossenschaftliche Zusammenfassung der Imker ihre höchste Entfaltung. Der Strohkorb ist eine Erfindung der Westgermanen; er stellt die jüngste, aber erfolgreichste der alteuropäischen Bienenwohnungen dar und hat durch sein unaufhaltsames Vordringen die imkerische Struktur unseres Erdteils entscheidend beeinflußt. Der Strohkorb bleibt nicht auf sein westdeutsches Ausgangsgebiet beschränkt, sondern dringt mit zahlreichen Übergangsformen tief in das Siedelgebiet der Nordgermanen und Balten, der Westslawen und Ungarn, der Alpenromanen und Franzosen ein. Wo immer in Europa er auftritt, ist der Strohkorb ein Zeuge westgermanisch-deutscher Aufbaukraft und das schlichte Sinnbild eines friedlich wirkenden, werteschaffenden Kulturwillens, der in viele Völker unseres Erdteiles verströmte.

Dem Aufbau der ostdeutschen Volkskultur und ihren Ausstrahlungen nach dem Osten Europas ist Schiers Aufsatz über »Die Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Slawen in volkskundlicher Sicht« gewidmet < 1636>. Auf Grund von Tatsachen aus dem Bereiche der Flur und Siedlung, des Hauses und der Tracht, des Wirtschafts- und Kulturlebens zeigt er, daß sich die kulturelle Berührung zwischen Deutschen und Slawen in drei großen Epochen vollzieht. Der Grund wurde in vorgeschichtlicher Zeit durch die ostgermanischslawischen Beziehungen gelegt; an sie schließt sich im Zeitalter der slawischen Westwanderung ein nicht minder wichtiger Kulturaustausch zwischen Westgermanen und Slawen. Der dritte Abschnitt der deutsch-slawischen Auseinandersetzung beginnt im Zeitalter der deutschen Ostsiedlung und dauert noch heute an. Nach der Auffüllung des siedlungsarmen Ostraumes mit deutschen Bauern, Handwerkern und Bürgern beginnt eine sieghafte Ausbreitung deutscher Kulturelemente bis tief in den Osten Europas hinein. Dieser gewaltige Ostzug deutscher Volks- und Kulturkraft hat schließlich in unseren Tagen durch die Gründung des Großdeutschen Reiches seinen beglückenden politischen Abschluß gefunden.


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