III. Das letzte Jahrhundert.

Es liegen zwei umfassende Darstellungen über die theologische Entwicklung des deutschen Protestantismus vor. H. Stephan < 2790> erfaßt alle Erscheinungen und Richtungen bis in die Nachkriegszeit hinein, wobei in richtiger Erkenntnis der treibenden Kräfte mit Aufklärung und Idealismus eingesetzt ist. Alle theologischen Disziplinen sind einbezogen, aber zugleich in ihrer Wirkung auf Geist und Gehalt der deutschen Theologie gewertet. Dadurch trägt das Buch trotz seines Mißverhältnisses zwischen Umfang und Stoff nicht den Charakter eines Kompendiums. Die Erklärung der fehlenden Kontinuität in der Geschichte der deutschen protestantischen Theologie ist überzeugend: »Deutscher Drang zur Austragung der Gegensätze, auch um den Preis der Selbstzerstörung, deutsche Neigung einerseits zur Problematik, anderseits zum Dogmatismus, sie treiben jede Bewegung auf die Spitze und geben ihr eine Einseitigkeit, die nur durch Abbruch überwunden werden kann.« Im Unterschied von Stephan gibt O. Wolff < 2750> einen inhaltlich begrenzten Ausschnitt aus der protestantischen Theologie von dem Erlanger von Hofmann an über Th. Harnack zu A. Ritschl, und von R. Seeberg über K. Holl zu G. Aulén. Ihm geht es um die Erkenntnis, wie weit das reformatorische Erbe in diese theologischen Ideen hineinströmt. Dabei ist auffallend, daß schon von Hofmann wie jetzt Aulén das Kampfmotiv in der Versöhnungslehre Luthers betont. Liegt darin die Wirkung der Verbindung zwischen nationalem Freiheitskampf und christlicher Erweckung? Es ist vordringliche Aufgabe, daß einmal


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in Verknüpfung von Personen und Ereignissen dieser Zusammenhang geklärt werden möchte. -- C. Steding < 2887> geht in seinem Werk, das die niederreißenden Kräfte der europäischen Kultur für die letzten Jahrzehnte aufzeichnet, auch auf gewisse Entwicklungen in der protestantischen Theologie ein. Dabei strebt er danach, die liberale Theologie und die dialektische Theologie, von deren innnerer Verwandtschaft er überzeugt ist, mit der Unentschiedenheit und Gebrochenheit des politischen Neutralitätsstandpunktes in Verbindung zu bringen. Dadurch soll auch die besondere Bedeutung der Schweiz gerade für diese Richtungen erklärt werden. -- Zwei für weite Kreise bestimmte Biographien liegen vor. Der ostpreußische Generalsuperintendent P. Gennrich < 2795> erzählt sein Leben. Naturgemäß werden dabei bedeutsame Ereignisse berührt, aber der Nachdruck liegt auf den einzelnen privaten Erlebnissen. Recht anschaulich ist das vielbewegte Leben des Hessen Vilmar von W. Schwarz dargestellt < 2818> -- geeignet für eine Zeit, die die Abkehr vom Liberalismus vollzog und die Schätze deutschen Volkstums zu heben suchte. Dem Verf. ist es sehr gut gelungen, die einzelnen Etappen der inneren Entwicklung zu scheiden. Denn es ist doch ein langer Weg von dem Vilmar, der in Cl. Harms den erbärmlichen Konkordienformulisten angriff, bis zu dem Verfasser der »Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik«. Er hat wie kaum ein zweiter Theologe der Zeit um die Kirche gerungen: Noch ist das erste Siegel zu lösen: das von der Kirche ... wir haben die Lehre von der Kirche noch nicht oder nicht vollständig erfahren. Dieses Streben hat er mit allen gemeinsam, die von der sozialen Seite her das Problem der Kirche aufgerollt haben, so auch J. H. Wichern, über dessen Kirchenbegriff E. Meißner eine eingehende Studie vorlegt < 2791>. Gerade in dieser überlegten Arbeit zeigt sich, daß Wichern durch den Einbau der sozialen Tätigkeit in die Kirche um einen neuen Kirchenbegriff ringt. Aber nichts lag ihm ferner als der rein immanente Kirchenbegriff. In diesem Zusammenhang ist auf die beiden Dissertationen von K. Kupisch < 1270> und J. A. Schmitz < 1269> aufmerksam zu machen, da beide weit ausholen und fast eine Geschichte des sozialen Protestantismus geben. Aber es ist nicht so, wie K. es meint, daß man Wichern unbesehens mit dem konservativ-orthodoxen Christentum verbinden kann oder sein soziales Ideal auf die Verwirklichung karitativer Unternehmungen beschränkt. Sozialpolitische Erkenntnisse besaß W. durchaus, aber er hatte ganz anders mit Gegenströmungen zu kämpfen als Fr. Naumann, dessen Auftreten doch gerade in die sozialpolitische Ära fiel. -- Ein viel beachtetes, aber noch nicht befriedigend gelöstes Problem behandelt E. Schapers Arbeit < 2794> über die geistespolitischen Voraussetzungen der Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms IV. Die Strukturanalyse seiner Zeit zeigt das ganz aus dem Gegensatz herausgeborene Handeln des preußischen Königs. Anderseits löst sein eigenes Erleben der Zeit Anschauungen aus, deren Selbständigkeit gegen die zeitgenössischen Staatstheoretiker immer gewahrt bleibt. Deshalb standen wohl auch die Vertreter der Kirche seinen Plänen verständnislos gegenüber. In diese Arbeit Sch.s spielt schon die moderne Entgegenstellung von Christentum und Deutschtum hinein, die das Thema der ausgezeichneten Dissertation von A. Geprägs < 2923> über Germanentum und Christentum bei H. St. Chamberlain ist. Endlich einmal ist Ch.s Weg zum germanischen Christentum klargestellt. Die volle Gegensätzlichkeit zur orthodoxen Anschauung tritt scharf hervor, während anderseits auch die letzten Gründe angegeben sind, die für die

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betonte Christlichkeit Chamberlains entscheidend sind. Danach versteht man A. Rosenbergs Urteil: Ch. vielleicht der entschiedenste Christ unserer Tage, und wiederum die Fortbildung des Christentums aus der kantischen Philosophie und der rassisch-mythischen Überzeugung zum deutschen Glauben. Eine solche gegenwartsnahe Arbeit zeugt in ihrer Sachlichkeit und Unbestechlichkeit von dem wissenschaftlichen Sinn der jungen Generation, die sich des hohen Rufes deutscher Geistesarbeit bewußt bleibt.


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