VII. Außenpolitik 1871--1890.Windelbands zusammenfassender Überblick über die Außenpolitik seit 1871 (
1274) ist aus Vorträgen entstanden und hat den Zweck, weiteren Kreisen
die großen Linien dieser außenpolitischen Entwicklung zu zeigen. Die Schrift, die sich in der Auffassung mit
der im vorigen Jahrgang besprochenen Veröffentlichung des gleichen Verfassers deckt, (S. 291, Nr.
1220) erfüllt diese Aufgabe in vorzüglicher Weise. -- Die
Dissertation von Noack (
1310) enthält nur zwei Kapitel eines umfangreichen Buches, schneidet
aber im Vorwort und in den beiden schon gedruckten Kapiteln, die das Jahr 1887 behandeln, so wichtige Fragen an,
daß schon jetzt ein Hinweis auf diese Veröffentlichung nötig ist. Der Verfasser greift kühn und
entschlossen die ganze Grundlage der bisherigen Beurteilung der Bismarckschen Außenpolitik an. »Man
beurteilte die Entschlüsse und Handlungen Bismarcks nach den Aufgaben, die er sich stellte, und da ihm die
Erfüllung dieser Aufgaben bis zum letzten Tage seiner Herrschaft gelang, so glaubt man, daß
sich mit solchen Erfolgen der Kreis möglicher Fragen schloß.« (S. 9.) Noack meint nicht
ohne Grund, daß Bismarcks Zielsetzung zum Maßstab für die Beurteilung der politischen Geschichte
Deutschlands geworden sei und stellt, zum mindesten für die Außenpolitik nach 1871, die Forderung, daß
das Problem lauten müsse: nicht »Was wollte Bismarck?«, sondern: »Entsprach dieser Wille
Bismarcks dem, was die Interessen Deutschlands geboten?« (S. 10.) Diese Fragestellung ist durchaus fruchtbar, und
Noack hat recht, daß die Beurteilung der Bismarckschen Außenpolitik nach 1871 tatsächlich sich von
vornherein auf den Boden der Bismarckschen Voraussetzungen gestellt hat, ohne die Berechtigung dieser Voraussetzungen
nachzuprüfen. Es ist ein Verdienst dieser Dissertation, daß sie hier einsetzt, und man wird dem gesamten Buch
mit Spannung entgegensehen dürfen. Freilich die Zustimmung zur Fragestellung des Verfassers bedeutet noch nicht die
Zustimmung zu seinen Thesen. Noack, der sich für die Zukunft sehr ausgesprochen zu einer pazifistischen Politik
bekennt, kommt in seiner Arbeit im Grunde zu der These, daß die Ursache des deutschen Machtverfalls in dem
Friedenswillen Bismarcks gelegen habe, vor allem in dem Friedenswillen gegenüber Rußland. Die beiden hier
vorgelegten Kapitel wollen vor allem schildern, wie vergeblich das Liebesmühen Bismarcks um Rußland gewesen
sei. Man darf diesen Thesen gegenüber sehr skeptisch sein, um freilich ihre definitive Beurteilung bis zum
Vorliegen des ganzen Buches zurückzustellen. -- Im Gegensatz zu der Auffassung von Noack gibt die Arbeit von
Scheller (
1290) -- eine Marburger Dissertation -- eine zusammenfassende Untersuchung
des Verhältnisses der Bismarckschen Politik zu Rußland, die im ganzen im Rahmen der üblichen Auffassung
gehalten ist. Einleitende Abschnitte gelten der Stellung Bismarcks zu Rußland
S.334 vor und während des Krieges von 1870--1871. Im Mittelpunkt steht die Herausarbeitung der russischen Linie der Bismarckschen Bündnispolitik in den Zeiten 1871--1881. Ohne wesentlich Neues zu geben, ergänzt Schellers Arbeit in manchen Einzelheiten frühere Veröffentlichungen und gibt im ganzen ein zutreffendes Bild der Haltung der Bismarckschen Politik gegenüber Rußland.Der Aufsatz von Klingenfuß ( 1293) über Beust und Andrassy beruht auf Wiener Aktenmaterial und zeigt deutlich die Sonderpolitik, die Beust als österreichischer Botschafter in London in deutschfeindlichem Sinne trieb. Darüber hinaus ist die Arbeit für die allgemeine Beurteilung der Krise von 1875 recht interessant. --Gauld ( 1296) behandelt die Vorgeschichte der englischösterreichischen Verständigung über die orientalischen Dinge in der Zeit des Berliner Kongresses und teilt einige Stücke aus den englischen Akten mit. -- Auf Grund des Nachlasses Corti ( 1295) wird dessen Haltung auf dem Berliner Kongreß dargestellt. Corti trat entschieden für die Annäherung Italiens an Österreich ein und machte das zu einer Art Bedingung für die Annahme des Postens als Minister des Äußern. Sein Verzicht auf Kompensationen für Italien führte zu starker Unzufriedenheit der italienischen öffentlichen Meinung und veranlaßte dann Cortis Rücktritt. -- Die Arbeit von Schünemann ( 1289) betont im Sinne der sich allgemein durchsetzenden Auffassung, daß das Bündnis von 1879 nicht die Option Bismarcks für Österreich und gegen Rußland bedeute. Er wendet sich dabei vor allem gegen das in den vorhergehenden Jahresberichten von uns erwähnte Buch von Heller (S. 292, Nr. 1259) und betont ihm gegenüber mit Recht, daß das österreichische Bündnis von 1879 jedenfalls für Bismarck alles andere war als die Vorstufe zur Schaffung eines Mitteleuropa. -- Eine gewisse Überschätzung des österreichischen Bündnisses im früheren und von Heller verteidigten Sinne enthält auch der Aufsatz von Behrendt ( 1306), der aber für das speziell behandelte Thema höchst interessant und inhaltreich ist. Der Verfasser schildert auf Grund von Wiener und Berliner Akten die Bedeutung der polnischen Frage im Rahmen der Außenpolitik der Jahre 1885--1887, vor allem für das Verhältnis Deutschlands zu Österreich. -- Der Aufsatz von Bourgeois ( 1304) behandelt im wesentlichen auf Grund des deutschen Aktenwerkes die Bedeutung der römischen Frage bei der Entstehung des Dreibundes, die er sehr stark unterstreicht. Leider macht Bourgeois auch in dieser speziellen Untersuchung von seiner Auffassung sehr reichlichen Gebrauch, daß Deutschland unter dem Vorwande, den Frieden zu sichern, tatsächlich die deutsche Hegemonie habe aufrichten wollen. -- Gegen einen Aufsatz von Bourgeois aus dem Jahre 1924, der von derselben Gesamtauffassung aus den offensiven Charakter des Dreibundvertrages von 1887 nachzuweisen sich bemühte, polemisiert mit Recht die Arbeit von Trützschler von Falkenstein ( 1308). Der Aufsatz von Langer (
1301) schildert unter Benutzung der reichen gedruckten Literatur die
Stellung, die die europäischen Mächte zur französischen Okkupation von Tunis einnahmen. Er hebt dabei vor
allem hervor, daß Bismarck dieses Unternehmen Frankreichs nachdrücklich unterstützte, um seinen Blick
von Elsaß-Lothringen abzuwenden. -- Der erste Teil der Arbeit von Holborn (
1297) ist mit dem Zeitschriftenaufsatz identisch, über den im vorigen
Jahrgang berichtet wurde (S. 294 f.,
1260). Das in dem jetzt vorgelegten Buch neu veröffentlichte zweite
Kapitel behandelt unter Benutzung unveröffentlichter
S.335 Akten des Berliner Auswärtigen Amtes die Stellung, die Bismarcks Politik zu den Anfängen des Bagdadbahnbaues einnahm. Einleitende Ausführungen erörtern umsichtig Bismarcks politische Haltung in der Meerengenfrage und sind überhaupt für die allgemein politische Einstellung des Kanzlers im Jahre 1887, sowie für die Vorgeschichte des Mittelmeerabkommens wichtig. Im einzelnen wird dann die Vorgeschichte des Bagdadbahnbaues untersucht. Holborn betont dabei scharf, daß die Bismarcksche Politik zwar bereit war, die finanzielle und wirtschaftliche Betätigung deutscher Kaufleute in der Türkei zu unterstützen, das sie aber keinesfalls gewillt war, die amtliche Politik für privatwirtschaftliche Unternehmen einzusetzen, geschweige denn die allgemeine Linie der deutschen Außenpolitik dadurch stören zu lassen. Der Verfasser hebt mit Recht hervor, daß hier ein großer Unterschied zu der Behandlung dieser Dinge in der nachbismarckschen Zeit vorliegt.Das Buch von Koerlin ( 1303), das in den von Fester herausgegeben »Halleschen Forschungen zur neueren Geschichte« erschienen ist, untersucht für das Jahrzehnt vor Bismarcks Sturz die Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland und die verschiedenen Bündnisfühler, die schon in diesen Zeiten zu verzeichnen sind. Der Verfasser berücksichtigt dabei, vor allem für Rußland, auch die innenpolitischen Voraussetzungen für diese Bestrebungen. Freilich reicht, was der Verfasser selbst weiß, das zur Verfügung stehende Quellenmaterial, in dem die französischen und russischen Akten fehlen, nicht aus, um eine endgültige und vollständige Schilderung dieser französisch-russischen Beziehungen zu geben. Trotzdem ist die Arbeit eine nützliche und brauchbare Zusammenstellung, die zugleich die fast chaotischen Zustände der russischen Regierungsverhältnisse zeigt und das Durcheinander der verschiedenen innen- und außenpolitischen Bestrebungen deutlich kennzeichnet. Zugleich hebt Koerlin sehr nachdrücklich das Ineinanderarbeiten der anwachsenden panslawistischen Bestrebungen mit den chauvinistischen Tendenzen in Frankreich hervor. Die Arbeit zeigt damit auch die wachsenden Schwierigkeiten, denen sich Bismarcks Bündnispolitik vor allem in den letzten Jahren gegenübersah. Auf der anderen Seite hält sich der Verfasser von einer Überschätzung der russischfranzösischen Beziehungen in den achtziger Jahren mit Recht frei, und sagt selbst, daß entscheidend für Rußlands Wendung zu Frankreich die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages gewesen sei. Damit ist freilich das Wort »Vorgeschichte« des russisch-französischen Bündnisses, das der Titel des Koerlinschen Buches gebraucht, nur beschränkt richtig. -- Der Aufsatz von Heller ( 1309), der Bismarcks Stellung zur Führung des Zweifrontenkrieges für das Ende der achtziger Jahre untersucht, legt dar, daß der Kanzler im Gegensatz zu den damaligen Plänen des Generalstabs für einen Westaufmarsch war. Dabei wird sehr deutlich hervorgehoben, daß Bismarck sich in diesen Fragen sehr unabhängig zu Österreich stellte, und vor allem den Gedanken einer gleichzeitigen Mobilmachung ablehnte, weil Deutschland erst dann zum Eingreifen in einen Krieg verpflichtet sei, wenn Österreich bereits angegriffen wäre. Die beiden Arbeiten von Eisenbacher und
Hertneck liegen auf dem Grenzgebiet zwischen Innen- und Außenpolitik und behandeln beide die
Stellung politischer Gruppen zu außenpolitischen Problemen. Die Arbeit von Eisenbacher (
1302) ist eine ganz wertvolle Zusammenstellung der Haltung der
S.336 württembergischen Presse zu den Anfängen der Kolonialpolitik in den Jahren 1878--1885. Freilich macht der Verfasser sich die Sache ziemlich leicht. Er versucht kaum, die Stellungnahme der verschiedenen Parteien wirklich aus ihrer Presse zu verstehen, und es wird dafür etwas stark mit Schlagworten -- nicht immer frei von politischer Beimischung -- gearbeitet. Die Art der Gliederung, die die Haltung der verschiedenen Parteien hintereinander darstellt, zwingt außerdem zu vielfachen Wiederholungen. Daneben ist schon methodisch unglücklich, die Stellungnahme der Presse zu einer Frage der Reichspolitik an der Hand der Zeitungen eines Einzelstaates zu behandeln, zumal nur in den seltensten Fällen der Versuch gemacht wird, zu fragen, wieweit die Haltung der lokalen Presse bedingt ist durch die Einstellung der führenden Politiker und Organe der entsprechenden Richtung. Die Arbeit zeigt so recht, wie schwer es ist, die Presse als historische Quelle zu benutzen. Immerhin ist sie als Material nützlich und zeigt den Umschwung von ziemlicher Skepsis zu starker Bejahung der Kolonialpolitik in dem Zeitraum von 1878--1885. -- Der Aufsatz von Hertneck ( 1300) ist eine parteigeschichtlich interessante Untersuchung, die zunächst die Haltung von Marx, Engels und Lassalle zur orientalischen Frage behandelt, und unter anderem betont, daß Marx und Engels für die Schaffung eines südslawischen Staates eintraten. Hertneck legt dann dar, daß für die weitere Haltung der Sozialdemokratie zur orientalischen Frage der Einfluß des älteren Liebknecht von entscheidender Bedeutung gewesen sei. Liebknecht seinerseits steht dabei weniger unter dem Einfluß von Marx und Engels als unter dem von Urquhart. Sein dogmatischer Russenhaß bestimmt in starkem Maße die weitere Haltung der Sozialdemokratischen Partei, deren Stellung in den Krisen von 1876--1878 und 1885--1887 eingehender behandelt wird. |
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