§ 24. Deutsche Geschichte von 1890--1914(H. Herzfeld) Im Verlauf des Berichtsjahres ist die Diskussion über die
deutsche Vorkriegsgeschichte am stärksten durch das Erscheinen der Denkwürdigkeiten Bü- S.219 lows ( 1026) angeregt worden. Das Memoirenwerk, in dem der vierte Reichskanzler das Wort zu einer letzten Verteidigung ergriff, erschien im Grunde in einer Situation von einzigartiger Gunst. Durch die Publikation der deutschen und englischen Akten waren die Brennpunkte seiner politischen Wirksamkeit, gerade in den unmittelbar vorhergehenden Jahren, in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt worden. Man konnte erwarten und erwartete, daß der Fürst sich wenigstens mit den früheren Erscheinungen der an ihm geübten Kritik auseinandersetzen, das seltene, nur in Zeiten revolutionär beschleunigter Entwicklung mögliche Schauspiel der Apologie des handelnden Politikers gegen die nachträgliche Beurteilung der historischen Erkenntnis geben würde. Diese Annahme erwies sich als völlig irrig. Die Niederschrift der Denkwürdigkeiten hatte bereits in den Jahren 1920--1923 stattgefunden; weder der Fürst, noch der auch sonst unzulänglich arbeitende Herausgeber haben nachträglich Korrekturen von größerer Bedeutung vorgenommen, so daß das Werk trotz seines späten Veröffentlichungstermines seinem ganzen Wesen nach noch ganz dem Typ der kurz nach der Katastrophe des Weltkrieges erschienenen Selbstverteidigungsmemoiren ohne Rücksichtnahme auf unser heutiges dokumentarisches Wissen angehört.Gerade der anspruchsvolle Umfang dieser vierbändigen Erinnerungen, die fast anachronistisch anmutende selbstgefällige Sicherheit, mit der Bülow wieder auftrat, verschärften notwendig die anfänglich ganz überwiegende Neigung zu strengster Kritik. Zahlreiche Besprechungen, vor allem von Herre und Wegerer in der Kriegsschuldfrage, von F. Hartung in der Zeitschrift für Politik, deckten die zahlreichen sachlichen Irrtümer der überwiegend aus der Erinnerung niedergeschriebenen ersten drei Bände auf. Die Kritik heftete sich an die persönlich unangenehme Art, mit der der Fürst seine eigene Verantwortung hinter die zweifellose Belastung flüchtete, die Wilhelms II. persönliche Eigenart für jeden leitenden Staatsmann bedeutet hatte. Sie setzte an dem selbstgefälligen Optimismus ein, mit dem Bülow auch hier wieder das Ergebnis seiner Kanzlerschaft beurteilte, ohne von der ganzen Summe inzwischen lautgewordener Kritik Notiz zu nehmen. Sie stellte erneut die Belastungen des Erbes fest, das er seinem Nachfolger, Bethmann Hollweg, übermacht hatte, und war genötigt, gegen die leichtfertige Gedankenlosigkeit Einspruch zu erheben, mit der die Fragen des unmittelbaren Kriegsausbruches im Juli 1914 aus dieser gleichen Tendenz behandelt waren, alle Belastung von der eigenen Wirksamkeit auf die Schultern seiner Nachfolger zu verschieben. Unmittelbar nach dem Erscheinen der ersten Bände begann bereits in Zeitungen und in den Süddeutschen Monatsheften die lange Reihe der Proteste derjenigen, die noch bei Lebzeiten in den Memoiren kritisch und lieblos behandelt waren. Wenn auch in dieser Phase der Kritik der stoffliche Wert des Werkes im einzelnen bereits nicht verkannt, insbesondere die Überzeugungskraft der zahlreichen Zeugnisse über die durch den Kaiser veranlaßten Friktionen zugestanden wurde, so war doch der Gesamteindruck mit erdrückender Wucht negativ, es überwog jene Haltung, die geneigt war, diese Denkwürdigkeiten als historisch in der Hauptsache wertlos anzusehen und sie als moralischen Selbstmord des Verfassers nach seinem Tode zu betrachten. Eine erste Wandlung wurde spürbar, als, das Werk abschließend, der vierte Band mit den
Jugenderinnerungen erschien, in dem die Formgewandtheit Bülows am stärksten hervortrat und dies Talent reiner
genossen werden konnte,
S.220 weil seine eigene politische Rolle hier neben der Auswirkung eines starken rezeptiven Talentes eine untergeordnete Rolle spielte. Bereits einige persönliche Erinnerungsbücher an den Fürsten von sonst relativ geringerer Bedeutung (Ph. Hiltebrandt 1027, Siegfr. Münz 1029) hatten gleichzeitig mit den Memoiren wieder gesucht, die Erinnerung an den bestrickenden Charme seiner Persönlichkeit und seines Hauses wachzurufen. Jetzt setzte eine Schicht der Kritik ein, die am eindringlichsten A. O. Meyers große Besprechung in der Deutschen Literaturzeitung (Oktober 1931, Sp. 2037 ff.) vertrat, die aber auch bei H. O. Meisner in den Forschungen zur brandenburgisch-preußischen Geschichte (44, 102 ff.) deutlich erkennbar ist. Sie versuchte, die Erinnerungen des Fürsten vornehmlich als document humain zu werten, das Bild der Persönlichkeit unter vorläufiger Zurückhaltung oder Abmilderung der rein politischen Kritik aus diesem ihren letzten großen Selbstzeugnis zu rekonstruieren. In deutlicher Ablehnung des stark moralischen Unterstromes, der die erste kritische Phase unleugbar durchzogen hatte, legte sie den Nachdruck auf den fesselnden literarischen Reiz, den das Memoirenwerk als Repräsentant einer gewandten und glatten Erzählungsgabe nach romanischen Vorbildern hatte. Die Charakteristik der Persönlichkeit hob hervor, daß dieser starke literarische Trieb eines vom Glück verwöhnten Menschenkindes auf das Stärkste mit jener Gewandtheit des durch Lebenslaufbahn und Ehe mit romanischen Ländern, Italien, Frankreich und Rumänien, eng verbundenen Diplomaten harmoniere, die Angehörige dieser Länder schon zeitig an dem späteren Reichskanzler die eigentlich erdgebundene deutsche Schwere vermissen ließ. Hiermit schien ein Punkt gefunden, von dem aus das, was bisher als Unwahrhaftigkeit und Nachlässigkeit der Memoiren gerügt war, als Auswirkung einer positiveren literarisch-formalen Triebkraft verteidigt werden konnte. Die Maßstäbe der rein politisch-historischen Kritik erschienen gegenüber einem Manne, der so gewandt wie Bülow zugleich Italiener der Renaissance, Schüler der romanischen Gegenwart und doch mit subjektiver Ehrlichkeit Monarchist und Christ der bismarckischen Reichsgründung zu sein vermochte, in ihrer Strenge entwertet, und es schien damit die Freiheit gegeben, den Nachlaß dieses Eklektikers eben nur als solchen zu nehmen.Damit entstand freilich die Gefahr, die Denkwürdigkeiten zu stark als literarisches Werk zu isolieren. Der
Historiker kann nicht darauf verzichten, Bülow, der als Politiker gewirkt hat, und, gleichgültig ob die Wahl
seiner Lebensaufgabe in den Jugendjahren ganz seiner innersten Veranlagung entsprach, sich mit starkem und bleibendem
Ehrgeiz an diese Lebensaufgabe geklammert hat, vor allem nach der Verbundenheit seiner Leistung mit der großen
geschichtlichen Entwicklung der Epoche kritisch zu beurteilen. Die Abschwächung des Urteils von der subjektiv
persönlichen Seite her kann daher nur mit großer Vorsicht angenommen werden. Vor allem kann die Feststellung
der formalen Vorzüge auch nach der Seite der Persönlichkeit und ihrer geistigen Würdigung hin nicht
genügen. Vielmehr stellt sich über diese heraus die Forderung nach einer Prüfung des Gehaltes, den diese
Vereinigung heterogenen Gedankengutes repräsentiert. Man wird daher kaum verkennen können, daß trotz
korrigierender Vorzüge, die diese zweite Phase der Kritik gegen die Übersteigerungen der ersten Ablehnung
besaß, auch sie noch im Bereich erster vorläufiger Auswertung der Memoiren blieb. Wenn sie den Nachdruck auf
den Eigenreiz der literarischen Erscheinung legte, so entstand das Postulat, diese wirklich nach strengeren
S.221 ideengeschichtlichen Maßstäben zu prüfen, wie das für Bülows Jugendentwicklung neuerdings in Kählers Breslauer Universitätsrede (Legende und Wirklichkeit im Lebensbild des Kanzlers Bernhard von Bülow, Breslau 1932) geschehen ist. Ebenso ist für eine Auswägung der Vorzüge seiner technischen Geschicklichkeit als Diplomat und Politiker gegen die Kritik an dem Staatsmann Bülow noch die entscheidende Formulierung erst von einer umfassenderen Verarbeitung der Denkwürdigkeiten mit der Fülle des vorhandenen Kontrollstoffes zu erwarten, die naturgemäß nicht von der ersten kritischen Würdigung der Neuerscheinung zu fordern war. Daß eine solche Arbeit freilich zu der von Bülow erhofften radikalen Rechtfertigung seines Wirkens führt, kann schon heute als ausgeschlossen gelten, da einer solchen Erwartung die leicht erkennbaren Schwächen der Denkwürdigkeiten, die die Schwächen des ganzen Menschen deutlich erkennen lassen, zu greifbar widersprechen.Hinter dem Höhepunkt, den die deutsche Memoirenliteratur des letzten Jahrzehntes mit den Denkwürdigkeiten Bülows erreicht hat, treten an Einzelbedeutung alle darstellenden Arbeiten zur Geschichte der Epoche zurück, während der Fortschritt der dokumentarischen Kenntnis des Zeitraumes wieder recht erhebliche Beiträge aufweist. Eine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte von 1890--1919 ist mit dem dritten Bande des Ziekurschschen Werkes ( 1021) erschienen. Die Gesamtlinie dieser Darstellung war durch die Anlage der ersten Bände bereits gegeben und ist im Jberr. (1925, S. 283, 1927, S. 259) von W. Mommsen gewürdigt worden. Der vorliegende Band ist schon durch seinen knappen Umfang notwendig in der Neigung bestärkt worden, eine Eindeutigkeit der Linienführung festzuhalten, die bei der Schwere der Probleme vielfachen Widerspruch hervorruft. Auch dieses Mal führt die Darstellung der inneren Entwicklung, der der stärkere eigene Forschungsantrieb Ziekurschs gehört, noch am ehesten über frühere Arbeiten heraus, reizt die starke Vereinfachung der außenpolitischen Vorgänge, deutlich besonders an den Fragen der Jahrhundertwende, am stärksten zu Bedenken und Einwänden. Die Behandlung der Weltkriegsjahre verbindet die Kritik des Verf. an der grundlegenden politischen Struktur des Bismarckreiches mit sehr zugespitzter Übernahme der Delbrückschen Kritik an der deutschen Heeresführung. Die Antithese von Vernichtungs- und Ermattungsstrategie wird so ausschließlich auf das große Völkerringen angewendet, daß Ziekursch den Weltkrieg in eine bedenklich weitgeführte Parallele zu den Kriegen der absolutistischen Epoche setzt, die die Härte des großen Entscheidungskampfes, den ganze Völker um Sein und Nichtsein führten, zu verdunkeln droht. Der Wert eines anregenden und selbst im Widerspruch klärenden Thesenbuches ist auch diesem Teil geblieben, der die literarischen Vorzüge seiner Vorgänger teilt. Auf der Grenze von Memoirenliteratur und rückblickender, zusammenfassender
Würdigung der Ereignisse steht der Skizzenband H. Pachnickes über führende Männer im
Alten und Neuen Reich (
1035), dessen Charakte istiken häufiger glückliche Einzelzüge
beibringen, ohne bei irgendeinem Thema wirklich in die Tiefe zu gehen. Auch die Beiträge aus eigener politischer
Wirksamkeit fehlen zwar nicht ganz, sind jedoch spärlich gesät. -- Ebenso enttäuschend wie dieses Buch
eines aktiven Politikers ist die neue ausführliche Biographie Eulenburgs von R. C. Muschler (
1032), trotzdem der Verfasser Zugang
S.222 zu den von Haller bereits benutzten Familienpapieren gehabt hat. Es ist, wie das die Kritik von F. Hartung darlegte, eine rein literatenhafte Kompilation, die stofflich höchstens zu den Jugendjahren und der Würdigung des Dichters Eulenburg einiges Neue beibringt, vor den Aufgaben der politischen Biographie aber durch harmlose Naivität unbedingter Bewunderung für den gewählten Helden versagt.Dagegen ist als monographische Studie eine Arbeit von R. Geis über Caprivis Sturz ( 1047) verwertbar, die zwar nicht wie ihr Vorgänger, Zechlins Staatsstreichbuch von 1929, auf eigener Archivforschung beruht, aber eine nützliche Übersicht über den Gesamtkreis der innenpolitischen Ursachen der Krise von 1894 gibt und als Ergänzung der besonderen von Zechlin herausgearbeiteten Linie benutzt werden kann. Alle sonstigen Erscheinungen zur Geschichte der deutschen Innenpolitik werden an Bedeutung aber überragt durch die Zusammenfassung, die Eckart Kehr ( 1048) in seinem Buche über Schlachtflottenbau und Parteipolitik für seine bisherigen Studien zum gleichen Thema gegeben hat. Geblieben ist dabei die schroffe Einseitigkeit des Ausgangspunktes, die das große Unternehmen des Flottenbaues von der innenpolitischen Seite her erklären will. Geblieben ist der prinzipielle Standpunkt, der die ganze Entwicklung vom Gesichtspunkt des Klassenkampfes, von der großen Auseinandersetzung der Sonderinteressen der wirtschaftlichen Schichten her verstehen will. Für Kehr beantwortet sich letzten Endes die Frage nach den akuten Ursachen des Flottenbaues um die Jahrhundertwende dadurch, daß der Flottenbau im Rahmen der Miquelschen Sammlungspolitik die große Kompensation an Industrie und Handel für die Bewilligung des erhöhten Schutzzolltarifes von 1902 an die Landwirtschaft wurde. Aber auch wenn man der Ansicht ist, daß damit die entscheidenden Gelenke der Ereignisse gründlich verfehlt sind, daß überall Begleiterscheinungen zum Wesentlichen erhoben werden, kann der Anregungswert der konsequenten und geistreichen Konstruktion im ganzen, kann vor allem auch der reiche Ertrag des Buches zur Erforschung der innenpolitischen Entwicklung und der Parteigeschichte Deutschlands von 1890--1900 nicht verkannt werden. Für dieses spröde Gebiet ist durch eine umfassende Arbeit, die vom Archiv des Reichswehrministeriums ausgehend auch weite Gebiete der Presse und der Publizistik erschloß, unsere Kenntnis so stark wie nur durch ganz wenige andere Produktionen der letzten Jahre erweitert worden. Der Reichtum der Anregungen, den das Kehrsche Buch vermittelt, erstreckt sich weit über das Gebiet der eigentlich politischen und wirtschaftlichen Geschichte heraus und führt auch in anregender, wenn auch ebenso Widerspruch erregender Weise auf das ideengeschichtliche Gebiet herüber, indem der Versuch gemacht wird, die zeitgenössische theoretische Unterbauung für das neue Postulat der Weltpolitik nach ihren realen Unterlagen zu prüfen. Die übergroße Fülle der
sonstigen Arbeiten ist wieder der Erforschung der Außenpolitik gewidmet. H. Preller (
1049) hat der von Fr. Meinecke zuletzt behandelten Frage des Salisburyschen
Teilungsplanes von 1895 eine eingehende Arbeit gewidmet. Sie lehnt die Auffassung radikal ab, daß hier ein erster
Ansatz zur Preisgabe der splendid isolation, zu bündnismäßiger Neuorientierung der englischen Politik
vorliege, und verficht den Gedanken, daß Salisbury nur die notgedrungene Liquidation der Politik seiner liberalen
Vorgänger for home
S.223 consumption vollzogen habe. Dieser Erklärungsversuch, der bei dem Mangel originaler englischer Zeugnisse -- auch Preller, der die Lückenhaftigkeit der Großen Politik für diese Vorgänge kritisiert, beschränkt sich für die englische Seite auf die an sich nützliche Auswertung der bisher nicht beachteten parlamentarischen Farbbücher -- notwendig problematisch bleiben mußte, möchte also die Reihe der nicht auf Deutschland beschränkten Sondierungen Salisburys nur als Anpassung an die Erregung der öffentlichen Meinung Englands über die Armeniergreuel verstehen. Es ist ein Verdienst der Arbeit, daß sie erneut auf die Gewagtheit der Interpretation hingewiesen hat, die hier ein englisches Bündnisangebot an Deutschland vor den Bündnisverhandlungen der Jahrhundertwende sehen will, aber Prellers Grundthese erscheint doch ebenfalls zweifelhaft, da sie zu wenig mit den Zeugnissen rechnet, die Salisburys Bedenken gegen die Lebensfähigkeit der Türkei als einen Jahrzehnte alten Bestandteil seines politischen Denkens erhärten. Das Problem muß heute noch als kaum lösbar erscheinen. Die Möglichkeit aber, daß diese Aktion mit der Ententesondierung an Rußland im Januar 1898 in Verbindung zu bringen ist, und damit dem ersten Zeichen, daß auch Salisbury gerade in den Frühjahren seines letzten Ministeriums nicht als so starrer Vertreter der Isolierungspolitik wie im J. 1901 aufzufassen ist, erscheint heute zum mindesten ebenso möglich und naheliegend, wie der Prellersche Deutungsversuch.Endgültige Aufklärung über die Verbindung zwischen Dreyfus-Affäre und der deutschen Botschaft in Paris haben die von Schwertfeger herausgegebenen Aufzeichnungen und Papiere des Militärattachés von Schwartzkoppen ( 1053) gebracht, durch die jetzt die völlige Unschuld von Dreyfus endgültig erhärtet ist. Sie zeigen auch, daß Schwartzkoppens Zurückhaltung während des Revisionsprozesses von 1898 der direkten Anweisung von Reichskanzler und Generalstabschef entsprang. Der scharfe Angriff, den Fr. Thimme ( 1054) auf Grund eines isolierten Münsterschen Briefes gegen das Institut der Militärattachés überhaupt richtete, reiht danach den Fall Schwartzkoppen aus diesem Anlaß zu Unrecht in die Reihe militärischer Eigenmächtigkeiten gegen die politische Leitung ein und ist nach den Feststellungen Schwertfegers zu berichtigen. Für die großen Verhandlungen der Jahrhundertwende, die
noch im Vorjahre einen der stärksten Mittelpunkte der monographischen Diskussion bildete, sind im Berichtsjahre nur
noch Nachzügler von geringerer Bedeutung erschienen. Die Auswertung des englischen Aktenmaterials hat sich mit
ihrem Schwerpunkt jetzt auf Band 3 und 4 der British Documents verschoben, die die Entstehungsgeschichte
der englisch-französischen Entente und die Marokkokrise der Jahre 1904--1906 enthalten. Sie sind in gedrängter
Kürze zuerst von Rich. Fester in einer Aufsatzreihe: Geschichtliche Einkreisungen (Deutsche
Rundschau Okt.-Dez. 1930; Fortsetzg. 1931) in Angriff genommen. Festers Abhandlung ist methodisch wertvoll durch die
Schärfe, mit der hier für jede einzelne Phase der Entwicklung der bisher erreichte Grad der dokumentarischen
Kenntnis untersucht und die relative Vollständigkeit der grundlegenden quellenmäßigen Voraussetzungen
einer darstellenden Behandlung festgestellt wird. Während im ersten Aufsatz das neue Bild der Entstehung der
Entente im Vordergrund steht, erweitern sich die Fortsetzungen zu einer parallelen Prüfung der deutschen,
englischen und französischen Zielsetzungen in der Marokkokrise, die die Kritik der deutschen Politik in diesen
Jahren zum erstenmal auf
S.224 eine wirklich konkrete Basis stellen kann und die ganze Bedeutung der Tatsache klar macht, daß wir uns jetzt von der einseitigen Information nur durch deutsche Akten zu lösen vermögen. Das Ergebnis bleibt die »absolute Planlosigkeit der deutschen Politik«, deren schließliche Festlegung auf die Konferenzidee doch nur der Verlegenheitsausweg aus einem Durcheinander widersprechender Tendenzen war, das seine schärfste Beleuchtung aus dem notwendig zum Scheitern verurteilten Experiment des Björkö-Vertrages erhält.In sehr viel breiterem Rahmen hat der amerikanische Historiker E. N. Anderson der ersten Marokkokrise ein umfangreiches Buch ( 1063) gewidmet. Es gehört zu den an Zahl wachsenden Erzeugnissen der amerikanischen Forschung, die eine wirklich gediegene Durcharbeit der Quellen und ein ruhiges, einsichtsvolles Urteil über die komplizierten Fragen der europäischen Vorkriegsgeschichte zeigen. Mit dem engeren Thema der Marokkokrise ist eine eingehende Geschichte der Ententen von 1904 und 1907 verbunden, so daß im Gegensatz zu älteren Werken die Probleme der ersten Marokkokrise wirklich nach ihrem allgemeinen geschichtlichen Hintergrunde gewürdigt werden. Vor allem die Politik Delcassés, soweit sie heute vor dem Erscheinen französischer Akten erfaßt werden kann, ist ganz umfassend untersucht und ihre Bedeutung als eine Haupttriebfeder für die Entstehung der englisch-französischen, wie auch der englisch-russischen Entente geklärt. Die ganze Bedeutung des Fortschrittes, den die englische Aktenpublikation für unsere Kenntnis bedeutet, tritt mit diesem Buche klar zutage, das von der so oft beobachteten Vorliebe des Amerikaners für England frei ist und auch Greys Haltung aus der Politik der balance of powers auf der Grundlage eines unüberwindlich starken, jede Verständigungsneigung erstickenden Mißtrauens gegen Deutschland abzuleiten unbefangen genug ist. Neben diese Darstellungen der Marokkokrise tritt als wertvolle Bereicherung unserer Quellenkenntnis der erste Band der Erinnerungen Fr. Rosens ( 1036). Sie sind für die ganze Arbeitstechnik des Auswärtigen Amtes, besonders in Orientfragen, wichtig, enthalten eine nachträglich auch an den Akten der Großen Politik nachgeprüfte Charakteristik und Würdigung der maßgebenden deutschen Persönlichkeiten, die sogar im Falle Holstein kritische Vorsicht wahrt, sind aber vor allem durch die eingehende Darstellung von Rosens Anteil an den Marokkoverhandlungen wichtig. Der Bericht über seine Pariser Spezialmission im Herbst 1905 (Vorbereitung der Algeciraskonferenz) kann als Musterbeispiel dafür dienen, welche Bedeutung solche persönlichen Erinnerungen haben können, wenn sie anders als im Falle Bülows auf Grund des anregenden und kontrollierenden Vergleiches von Erinnerung und Originaldokumenten entstanden sind. Rosen hat das Verdienst, die übertriebene Einschätzung der deutsch-französischen Ausgleichsmöglichkeiten, die sich an die Person Rouviers knüpfen, für diese Phase der Verhandlungen nach dem Sturz Delcassés ebenso zu zerstören, wie Klarheit über die Anklagen gegen eine übertriebene Hartnäckigkeit seiner eigenen Verhandlungsmethoden zu schaffen und die Wirkungslosigkeit von Wittes Eingreifen auf ihren Abschluß zu erhärten. Eng verknüpft mit der
ersten Marokkokrise ist auch das Problem der englisch-belgischen Verhandlungen vor dem Weltkrieg, bei dem auf die
scharfen Anklagen von 1914 ein langes Stadium weitgehender Einschränkungen gefolgt war. Auch hier hat das
Erscheinen der englischen Akten einen gewissen Wandel
S.225 geschaffen, indem es zunächst den unmittelbar verantwortlichen Anteil Greys an der Anknüpfung dieser Fäden erkennen ließ. Eine Schrift K. Hosses ( 1070) verband die Verwertung dieses Materials mit der merkwürdigerweise bisher von deutscher Seite völlig fehlenden Prüfung der konkreten militärischen Bedeutung jener Konversationen. Er konnte dabei Material verwenden, das 1914 zu deutscher Kenntnis gekommen war, ohne bisher -- auch von Schwertfeger nicht -- nach seiner Bedeutung erkannt zu sein. Das in dieser Tragweite überraschende Ergebnis war die Feststellung, daß in Technik und Inhalt eine vollkommene Parallele der englisch-belgischen Militärbesprechungen mit denen zwischen Frankreich und England für das J. 1905 besteht. Die bis ins Einzelnste gehende Regelung einer eventuellen kriegerischen Zusammenarbeit mit Belgien entspricht lückenlos auch den Voraussetzungen des damaligen französischen Operationsplanes. Hosse kommt zu dem Ergebnis, daß für diesen Zeitpunkt von einer förmlichen Militärkonvention zwischen England und Belgien gesprochen werden muß. Für die folgenden Jahre ist auch nach seinen Forschungen die Quellengrundlage noch sehr brüchig, den vorhandenen Zeugnissen über eine Fortsetzung der Besprechungen steht, wie E. Gottschalk ( 1069) hervorhebt, für das J. 1912 eine Anfrage Nicolsons bei dem englischen Gesandten in Brüssel und für das J. 1913 eine Unterredung Wilsons mit dem belgischen Obersten Heymanns entgegen, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob der Kontakt dauernd von gleicher Enge geblieben ist. Während also für 1906 zweifellos gilt, daß Belgien bereit war, als Glied der Entente aufzutreten, ist die Beweiskette für die belgische Nichtachtung der Neutralitätspflicht in den Folgejahren noch nicht geschlossen. Es bleibt abzuwarten, ob der Fortgang der englischen Aktenpublikation weitere Klarheit in dieser Frage schaffen wird. Dagegen ergibt sich gerade aus jenem Briefe Nicolsons der zweifellose Entschluß Englands, beim belgischen Widerstreben seinerseits die belgische Neutralität entsprechend den Anforderungen des eigenen Operationsplanes zu überrennen, so daß für die engere Schuldfragestellung damit eine neue Entlastung Deutschlands gewonnen ist.Die englische Aktenpublikation hat jetzt eines der umstrittensten Probleme der
Vorkriegsgeschichte, die Frage nach der Einwirkung des deutschen Flottenbaues auf die Gestaltung der deutsch-englischen
Beziehungen zwischen erster Marokkokrise und Haldane-Mission erreicht und damit eine Reihe von Fragen neu beleuchtet,
die gerade für die Beurteilung der deutschen Politik von entscheidender Wichtigkeit sind. Als einleitender Auftakt
hierfür wirkt die eingehende Biographie des Mannes, der mit der Revolution des Dreadnoughtbaues das Stadium des
schärfsten Wettlaufs im Rüstungskampf zur See einleitete. Die Lebensschreibung Lord Fishers von Admiral R. H.
Bacon (
1042) stammt aus der Feder eines besonders militärisch kompetenten
Mitarbeiters, für den politische Fragen erst in zweiter Frage standen. Für diese führt er nicht über
das hinaus, was bereits aus den beiden autobiographischen Schriften Fishers bekannt war. Aber die eingehende Darstellung
über Fishers Entwicklung gibt einen ganz neuen Einblick in den Werdegang seiner Reformen und läßt in
höchst lehrreicher Parallele zu Tirpitz' Reifeperiode in den Jahren 1892--95 erkennen, daß Fisher ganz
gleichartig aus spezifisch militärischer Durcharbeit der Erfordernisse eines modernen Seekrieges zu der
Programmforderung gekommen ist, das moderne Großpanzerschiff als Rückgrat der Kampfflotte zu
S.226 betrachten. Von der These aus, daß diese Umwälzung des Schiffsbaues unabwendbar im Zuge der Zeit gelegen und der einzelne Staat nur vor der Wahl gestanden habe, seine Konkurrenten zu überholen oder sich überholen zu lassen, versucht der Verfasser, die üblichen Einwände zu entkräften, die gerade für England diesen Schritt mit seiner starken Entwertung der älteren Flottenbestände als problematisch kritisieren, und Fishers Ruhm als führende Gestalt im Flottenbau des neuen Jahrhunderts vor Trübungen zu schützen. Im Zusammenhang mit Fishers Tätigkeit im Weltkriege sucht die Biographie vom Standpunkte des Seemannes eine Verteidigung auch für seine viel angegriffenen strategischen Anschauungen zu finden. Fisher hat zu jeder Zeit die Festlegung der englischen Kräfte als Flügelarmee des kontinentalen Verbündeten verurteilt und schon seit der ersten Marokkokrise -- der Biograph weist darauf hin, daß die näheren Operationspläne von 1905 ein Geheimnis sind, das anscheinend Fisher und Admiral Arthur Wilson allein besessen haben -- die Idee großer kombinierter Landungsangriffe von Heer und Flotte vertreten. Während die Beweisführung hierfür militärisch zweifelhaft erscheint, die Verteidigung seines Verhaltens zur Dardanellenexpedition selbst Schwächen zugibt, tritt doch Fishers große Erstleistung im Weltkriege, die schnelle organisatorische Wiedergutmachung der Niederlage von Coronel, deutlich hervor.Der
sechste Band der englischen Akten (
1024) gehört zu den zweifellos wichtigsten der ganzen Sammlung, weil er
an Hand der deutsch-englischen Flottenverhandlungen vom Ausgang der Bülowzeit bis zur Haldane-Mission mit
großem Reichtum gerade auch interner Aufzeichnungen aus dem Foreign Office die Grundlagen der Greyschen Politik zu
erkennen gestattet. Er zeigt von neuem, daß vor dem J. 1908, in dem die Folgen des Dreadnoughtbaues sichtbar
wurden, bei Grey weder eigentlich positive Verständigungsbereitschaft mit Deutschland, noch ein stärkerer
Antrieb zur Aufnahme von speziell marinetechnischen Verhandlungen bestand. Die englische Politik bleibt -- besonders
deutlich in den Windsor-Verhandlungen vom November 1907 -- in der Position befangen, die sie in der ersten Marokkokrise
abschließend bezogen hat. Sie fürchtet bei jedem Entgegenkommen gegen Deutschland, das in Frankreich oder
Rußland beunruhigen würde, in die frühere Isolierung zurückzufallen und ihre seit 1904 gewonnene
starke diplomatische Anlehnung zu verlieren. Der Primat der Ententeidee vor der Velleität zum Ausgleich mit
Deutschland hat sich bereits gefestigt und kommt in der Forderung, die Bagdadbahndiskussion zu vieren (mit
Einschluß von Frankreich und Rußland) zu führen, unverkennbar zum Ausdruck. Damit ist das Leitmotiv
gegeben, das den ganzen Band durchzieht. Auch die in zahlreichen Zeugnissen immer wiederkehrende Sorge vor der
wachsenden Stärke der deutschen Flotte, deren Tiefe sicherlich nicht zu bestreiten ist, wird in ihrer Auswirkung
begrenzt, sobald sich die eigentliche Problematik der deutschen Annäherungsversuche, die deutsche Forderung nach
politischer Sicherung vor der Teilnahme Englands an einem Angriffskriege, herausstellt. Die bleibende Unfruchtbarkeit
aller Verhandlungen beruht auf diesem letzten Gegensatz der englischen Stellung, die das Problem als reine Frage der
Rüstungskonkurrenz zwischen beiden Ländern behandeln möchte, und der politischen Garantieforderung von
deutscher Seite, die bereits von Bülow gestellt und von Bethmann Hollweg zäh festgehalten wird. Nach diesem
ganzen Material kann kein Zweifel mehr walten, daß Grey trotz subjektiven Friedenswunsches
S.227 das Mißtrauen seiner Mitarbeiter gegen die deutsche Politik geteilt hat: die Nachwirkung von ungünstigen Eindrücken der neunziger Jahre, die seine Erinnerungen behaupteten, wird hier durch seine Randbemerkungen aktenmäßig bestätigt. Auch ihn beherrscht die Furcht, daß eine Entente mit Deutschland zur deutschen Hegemonie auf dem Festland, zur Störung der guten Beziehungen mit den Zweibundmächten, letzten Endes zu einer neuen und bedrohlicheren Form der Isolierung Englands führen müsse. Was England politisch allenfalls zu geben bereit war, ist die für alle Mächte unschädliche allgemeine Erklärung, der Erhaltung des europäischen Friedens dienen zu wollen, wobei aber die Wahrung des Ententesystems als Grundlage des Gleichgewichtes der Mächte stets einbegriffen ist. Erst im Auftakt der Haldane-Mission tritt bei Grey eine gewisse Verschiebung der Gesichtspunkte auf: die Sorge, daß England doch nicht dauernd schlechtere Beziehungen zu Deutschland als vor allem Rußland haben dürfe. Es ist ein erstes Anzeichen, das auf die nach Nicolsons Memoiren in der letzten Vorkriegszeit zwischen ihm und seinen wichtigsten Mitarbeitern bestehende Differenz vordeutet. Auch dies Bedenken hebt jedoch seine grundlegende Entschlossenheit nicht auf, unter allen Umständen und in erster Linie die Entente mit Frankreich und Rußland zu erhalten, bedeutet nur einen graduellen, nicht prinzipiellen Unterschied zwischen ihm und Männer wie Nicolson und Eyre Crowe.Das Ergebnis der ganzen Verhandlungen ist notwendig die Feststellung, daß sie von Anfang an auf aussichtsloser
Grundlage begonnen wurden, während streng auf die Flottenfrage begrenzte Besprechungen als Versuch zur Entspannung
vielleicht nicht ganz so hoffnungslos hätten zu sein brauchen. Freilich steht nach all diesen Einblicken in die
Herzkammer der englischen Außenpolitik mit unumstößlicher Gewißheit fest, daß diese unter
keinen Umständen die mit den Ententen von 1904 und 1907 gewonnene günstige Gesamtsituation preiszugeben
gedachte, da der Wert dieses politischen Systems ja gerade mit einem solchen deutschen Nachgeben nur eine neue
Bestätigung erfahren haben würde. So wird das starke Maß von Zwangsläufigkeit, das die ganze
europäische Entwicklung in sich trug, nachdem erst einmal die große von den Ereignissen der Jahrhundertwende
ausgelöste Neuorientierung vollzogen war, mit ihrer ganzen Tragik von Neuem sichtbar. Die Verschlechterung der
diplomatischen Lage Deutschlands hat, wie immer neue Stellen dieser englischen Dokumente beweisen, die Sorge vor der
bedrohlichen Stärke seiner naturbegründeten Kraftentfaltung nicht aufheben können. Diese Sorge hat im
Falle Englands ihre letzte Steigerung gewiß durch den deutschen Flottenbau erfahren, aber sie beruht, auch
abgesehen vom Flottenbau, auf der selbständigen Befürchtung, daß diese potientielle Machtstärke
Deutschlands sich einmal auf rein bündnispolitischem Felde für England verhängnisvoll auswirken
könne, wenn sie nicht durch eine Mächtekombination von der Stärke der Entente dauernd in Schach gehalten
wurde. In diesem Sinne bleibt die englische Politik auch in den ganzen Jahren von 1907--1914 nicht nur Abwehrpolitik
gegen die deutsche Flotte, sondern bündnispolitische Isolierung Deutschlands im Interesse Englands, so daß
die Verstrickung des Kontinentes, einmal eingeleitet, ihrer Gang mit schicksalhaft anmutender innerer Folgerichtigkeit
stets weiter fortsetzen mußte. Die Frage, ob ein Teilrückzug der deutschen Politik auf dem Gebiet der
Flottenrüstungen die Situation entspannt haben oder durch den Erfolg
S.228 bloß diplomatischen Druckes den Zusammenhalt der Entente eher verstärkt haben würde, erscheint danach zum mindesten schwerer als je in optimistisch bejahendem Sinne zu beantworten. Wenn diese Möglichkeit überhaupt noch offengehalten werden kann, so nur mit einer Argumentation, die über die konkret feststellbaren Tendenzen der englischen Politik heraus hypothetisch die Hoffnung einsetzt, daß in einem solchen Falle die Entente sehr viel leichter und schneller an den asiatischen Gegensätzen der englischen und russischen Politik zerbrochen wäre. Im Kreise der Persönlichkeiten, die die englische Politik verantwortlich leiteten, lassen sich im Gegensatz zu dem Optimismus der deutschen Einschätzung wirklich begründete Unterlagen für diese Annahme nicht finden, so daß die entscheidende Bedeutung der Vorgänge, in denen sich von 1890--1901, von der Kündigung des Rückversicherungsvertrages, dem Abschluß des Zweibundes bis zu den Verhandlungen der Jahrhundertwende, die seitdem herrschende Konstellation des Mächtesystems herausbildete, in ihrer konstitutiven Wichtigkeit für die Vorgeschichte des Weltkrieges auf das Neue bestärkt erscheint.Während die Deutung der Persönlichkeit Greys noch immer eine schwierige Aufgabe stellt, während
über die unheilvolle Wirkung eines Eyre Crowe zwar kein Zweifel besteht, aber das Material zu seiner plastischen
biographischen Erfassung noch ebensowenig wie für Ch. Hardinge genügt, hat die Lebensbeschreibung Sir A.
Nicolsons aus der Feder seines Sohnes (1038/9) die entscheidenden Teile des Nachlasses, nicht ohne die
Kritik der Nachkriegsgeneration an der Leistung der Väter, so offenherzig vorgelegt, daß wir das bedeutsame
Wirken dieses Mannes jetzt befriedigend überblicken können. Wenn die Forderung einer russisch-englischen
Verständigung in Asien bei Nicolson bereits aus persischen Eindrücken der achziger Jahre entsteht, so zeigt
dieser bis 1914 konstant festgehaltene Gedankengang defensiver Sorge um Indien eine erste und bleibende Wurzel der
Ententepolitik, zu der sich bei ihm erst relativ spät das zweite große Motiv der Angst vor der deutschen
Gefahr gesellt. Nachdem er bereits in Algeciras als überzeugter Vorkämpfer der französischen Entente
gewirkt hat, verbindet ihn der entscheidende Anteil seiner Petersburger Botschafterzeit am Zustandekommen der Konvention
mit Rußland für immer unauflöslich mit der neuen Richtung der englischen Politik. Er wird in der
bosnischen Krise zum eifrigsten Anwalt der noch zarten Pflanze der russischen Entente, deren sorgfältige Schonung
er unermüdlich verlangt. Russische Indiskretionen über kontinentalpolitische Werbungen Deutschlands im J. 1904
haben ihn nach dem Zeugnis seines Sohnes seit 1908 endgültig zum erbitterten Gegner Deutschlands gemacht, dessen
Mißtrauen fortan nicht mehr hinter dem Sir Eyre Crowes zurücksteht. So wird er seit Anfang 1909 zum scharfen
Kritiker an der Politik der liberalen Regierung, die seine Empfehlung ablehnt, die russische Entente in ein formelles
Bündnis umzuwandeln. Nicolsons ganze Wirksamkeit als Unterstaatssekretär seit 1910 kreist um den Alpdruck der
Sorge, daß England durch die mangelnde Entschiedenheit der Greyschen Politik die Basis der Ententen wieder
verlieren könne. Die Politik seines Vorgesetzten findet daher seine volle antreibende und spornende Mitwirkung nur
in der höchsten Zuspitzung der Agadirkrise. Dank der alles beherrschenden Furcht vor neuer Isolierung hat er die
Haldane-Mission diskret, aber wirksam bekämpft, um sich in den letzten Jahren vor 1914 immer schärfer allen
ausgleichenden und
S.229 mildernden Tendenzen in der Haltung des Staatssekretärs entgegenzustellen. Die Überzeugung, daß die Dauerhaftigkeit der Ententen nur durch die Umwandlung in ein Bündnis gesichert werden könne, hat sich soweit gesteigert, daß er schon 1913 an seinen Abschied dachte und im April 1914 die Politik Greys mit einem Tanz auf hohem Seile verglich und jeden Augenblick von der Enttäuschung Rußlands seinen Abfall befürchtete. Wie diese Ängste nach dem Ausweis der russischen Akten übersteigert waren, so erscheint auch die Differenz gegen Grey in den Erinnerungen durch seine morbide Nervosität doch wohl größer, als sie tatsächlich war. Das Entgegenkommen, das Grey den russischen Wünschen im Frühjahr 1914 zeigte, scheint doch zu beweisen, daß Nicolsons Empfindlichkeit ihre Meinungsverschiedenheit als zu grundlegend und tiefgehend aufgefaßt hat. Der Wert der Memoiren als ein in dieser uneingeschränkten, von Greys Erinnerungen grell abstechenden Offenheit bis heute einziger Einblick in die Strömungen des Foreign Office wird aber im ganzen durch solche Zweifel und Einschränkungen nicht aufgehoben. Wie dies A. v. Wegerer ( 1040) auf Grund des Buches näher ausgeführt hat, gibt es einen Einblick von größter Bedeutung in die Kräfte, die von englischer Seite her durch eine Politik grenzenlosen Mißtrauens gegen Deutschland und ebenso starker Sorge vor einem Zerfall der Entente tatsächlich die Verstrickung Europas zu einer Politik offensiv wirkender, systematischer Einschnürung der Mittelmächte gesteigert und so den Boden für die Katastrophe von 1914 in erster Linie mit bereitet haben.Die deutsche Literatur zur Flottenfrage wird die Verarbeitung dieses neuen Stoffes erst im Verlauf einer Reihe von Jahren leisten können. Was im Berichtsjahr erschienen ist, hat sich dieser Aufgabe noch nicht unterziehen können. Das gilt für den Überblick über Tirpitz' Leben und Leistung, den P. Herre ( 1033) beim Tode des Großadmirals hat erscheinen lassen. Das Gleiche ist der Fall bei der Studie Upleggers ( 1059) über die englische Flottenpolitik vor dem Weltkriege. Sie hatte an sich das verfügbare Material der englischen Memoirenliteratur und Publizistik bis 1930 in gründlicher Weise aufgearbeitet und brachte im Zeitpunkte ihres Erscheinens mannigfach fördernde Klärung zu den Fragen der deutsch-englischen Flottenrivalität bis zum Naval Scare von 1909. Es spricht für die Solidität und den guten Instinkt der Arbeit, daß ihre Ergebnisse sich auch heute noch als Hintergrund und Ergänzung des neuen Wissens zum großen Teil verwenden lassen. Als letztes, großes Gebiet, auf dem grundlegende
Fortschritte unseres Wissens zur Vorkriegsgeschichte eingetreten sind, bleibt der Anteil Österreich-Ungarns an der
zum Weltkrieg führenden Entwicklung übrig. Einer der verdientesten militärgeschichtlichen Forscher
Österreichs, Ed. von Glaise-Horstenau (
1044) hat die Biographie von Franz Josephs langjährigem
Generaladjutanten, Chef der Militärkanzlei und schließlich Generalstabschef, des Grafen Beck, nach seinen
hinterlassenen Papieren geschrieben. Als Beitrag von höchstem Wert zur ganzen Geschichte Österreichs unter dem
langlebigen Kaiser greift sie freilich weit über die engeren Grenzen unserer Epoche hinaus. Beck gehört zu der
letzten Generation von Reichsdeutschen, die noch im Dienste des alten Kaiserhauses emporstiegen. Ein geborener
Breisgauer, hat er bereits 1848 unter den Fahnen Radetzkys in Italien gefochten und ist allmählich ganz zum
Österreicher geworden. Die lange Dauer des Vertrauensverhältnisses zu diesem
S.230 Manne steht in der Biographie des Kaisers aus gutem Grunde einzig da. Beck verkörperte eben jene Eigenschaften gewissenhaften Fleißes, solider, allem Genialen abholden Nüchternheit, die nach schweren Jugendenttäuschungen seit 1866 beim Kaiser entscheidend wurden. Nachdem Beck im Feldzug von 1866 wiederholt Träger ausschlaggebender Botschaften zwischen dem Herrscher und Benedek gewesen war, beginnt in der Rekonstruktionsperiode nach dem Kriege die Zeit seines historisch bedeutsamen Einflusses, der durch ein ganzes Menschenalter bis zu seiner Entlassung im Jahre 1907 dauerte. Sind seine Aufzeichnungen schon für den Feldzug von 1859 zu beachten, für den Krieg von 1866 bereits eine Quelle von großer Wichtigkeit, so enthalten sie fortan eine ununterbrochene Kette wertvoller Aufschlüsse, die über den Bereich des Fachmilitärischen in den Kreis der politischen Entwicklung übergreifen. So weit es sich dabei um spätere Aufzeichnungen handelt, sind auch sie den üblichen Gedächtnistrübungen unterworfen. Die Verschiebungen, die Beck bei dem Bericht über sein Eintreten für die Neutralität Österreichs im siebziger Kriege unterlaufen, sind ein von Glaise besonders hervorgehobenes Beispiel hierfür. Je mehr sich der Kreis seines Einflusses erweiterte, desto stärker ist aber offenbar auch die Grundlage an originalen Papieren gewesen, auf deren Herausgabe Glaise-Horstenau nur wegen der Not der Zeit zugunsten der zusammendrängenden Form der biographischen Darstellung verzichtet hat. In engster Verbindung mit Erzherzog Albrecht hat Beck an der Reorganisation der österreichisch-ungarischen Armee gearbeitet, aber sich wohl durch seine deutsche Abstammung leichter als der Sieger von Custozza in die neue Lage nach 1871 fügen können. Trotz seiner militärischen Berufsstellung wurde er der ganz konsequente Vertreter einer resignierenden Einsicht, die sich nach den großen Verlusten der Kriege von 1859 und 1866 über die Grenzen der österreichischen Kraft klar wurde. So ist er der Anwalt einer Friedenspolitik gewesen, die dauernd jedem großen kriegerischen Wagnis abhold blieb. In der Krise von 1876--1879, ebenso wie von 1884--86 hat er diesen Standpunkt stets festgehalten und als Generalstabschef aus dem Gefühl der eigenen Schwäche heraus den Zusammenstoß mit Rußland nicht etwa gewünscht, aber versucht, die militärische Fühlung mit dem deutschen Bundesgenossen über die von Bismarck gewünschte Linie hinaus zu festigen. Das Buch bringt über die Verhandlungen, die er seit den achtziger Jahren mit Waldersee, Schlieffen -- dessen schweigsame Zurückhaltung ihn stark verstimmte -- und schließlich dem jüngeren Moltke führte, einen Reichtum von Zeugnissen, der es als einen Ersatz für das vorläufige Fehlen österreichischer Akten neben dem deutschen Material der Großen Politik und eine grundlegende Quelle zur Geschichte des deutsch-österreichischen Bündnisses nach seiner militärischen Seite hin erscheinen läßt. Ebenso wichtig aber bleibt bis zuletzt sein Beitrag zur inneren Geschichte Österreichs mit dem immer schwereren Kampfe, den die Heeresleitung gegen die Sondertendenzen der Ungarn zu führen hatte. Becks persönliches Wirken teilt mit der Erscheinung seines kaiserlichen Herrn die Zähigkeit des defensiven Eintretens für das noch zu rettende Maß der Einheitlichkeit des Reiches. Wie seine immer stärker nüchtern begrenzte Personalpolitik, die Ursache seines Gegensatzes gegen den aufstrebenden Thronfolger Franz Ferdinand, am deutlichsten zeigt, teilt er mit dem greisen Kaiser auch den Prozeß allmählicher Erstarrung, jener Überalterung, die schließlich allzu greifbar den Bann einer wachsenden LähmungS.231 auf alle Tendenzen neuen Lebens in der österreichischen Politik legte. Dieser Lage ist er schließlich zum Opfer gefallen, bleibt aber ein geschichtliches Symbol für die Zwangsläufigkeit, mit der in diesem Österreich der letzten Generationen alle Kräfte mehr und mehr auf die Aufgabe der Verteidigung und Erhaltung beschränkt waren.In gleicher Richtung liegt der stärkste Eindruck, den das
Erscheinen des großen Werkes der österreichischen Aktenpublikation für die Jahre
1908--1914 (
1072, vgl. Nr
1073--75) machte. Österreich wurde durch sie mit einem Schlage neben
Deutschland derjenige Staat, der sein historisches Material für die unmittelbare Vorgeschichte des Weltkrieges in
der geschlossensten Vollständigkeit vorgelegt hat, während uns die englischen Akten heute noch gerade von
1911--1914 im Stich lassen, die Zusammenfassung der bisher in zahlreichen Publikationen verstreuten russischen
Materialien eben erst begonnen hat, die französische Publikation in hoffnungsloser Langsamkeit vorschreitet, das
Erscheinen der italienischen und serbischen Akten noch nicht einmal begonnen hat. Schon rein technisch bedeutete diese
Arbeit eines sehr kleinen Personenkreises eine Aufsehen erregende Leistung. Sie kam im entscheidenden Augenblick der
Gefahr zuvor, daß auf Grund des Friedens von Saint Germain die Nachfolgestaaten der einstigen Doppelmonarchie als
erste mit Teilpublikationen voraussichtlich feindlicher Tendenz hervortraten, die seit Jahren in den
österreichischen Archiven vorbereitet waren. Angesichts dieser drängenden Zwangslage, vor allem aber
angesichts der Vollständigkeit, mit der das Hauptthema der Beleuchtung der österreichischen Diplomatie
durchgeführt ist, wird man die grundlegende Beschränkung auf die politische Entwicklung unter
Zurückstellung der in den Conrad-Memoiren bereits ausgiebig und mit restloser Offenheit beleuchteten
militärischen Fragen und ebenso der wirtschaftspolitischen Seite nur gut heißen können. Sie ist auch
sachlich dadurch gerechtfertigt, daß Österreich-Ungarns Aufgabe in den letzten Jahren seines Bestehens sich
tatsächlich immer stärker auf den rein politischen Kampf um Sein und Nichtsein beschränkte, so daß
Tendenzen eines wirtschaftlichen Imperialismus für diese Großmacht, die seit 1908/09 auch den Gedanken der
Wirtschaftsexpansion auf dem Wege nach Saloniki aufgeben mußte, weniger als für irgendeinen anderen Staat in
Frage kamen. Durch stärkste drucktechnische Raumausnutzung ist es möglich geworden, in den acht Bänden
der Ausgabe ein Material zusammenzudrängen, das an Umfang nur wenig hinter der Stoffülle der deutschen
Aktenpublikation mit ihrer Ausdehnung über einen Zeitraum von dreiundvierzig Jahren zurücksteht. Ein gut
ausgearbeitetes System von Verweisungen verbindet sich mit sorgfältigen Angaben über die textkritischen
Grundlagen der ausgewählten Dokumente, um die Publikation trotz ihres überraschend beschleunigten Erscheinens
als eine Musterleistung wissenschaftlichen Editionsfleißes erscheinen zu lassen. Auf Grund der Erfahrungen, die
die deutschen und englischen Vorgänger mit dem Prinzip der sachlichen Aufteilung der Akten in parallele
Sonderkapitel gemacht hatten, hat die österreichische Sammlung, wie vor ihr schon die französische, die
chronologische Anordnung der Dokumente durchgeführt und damit eine Entscheidung getroffen, die in ihrem Falle
besonders empfehlenswert war. Denn durch die kontinental eingeschlossene Lage der Doppelmonarchie ist ihre Politik mit
ganz erdrückendem Übergewicht reine Balkanpolitik gewesen, soweit sie nicht durch das deutsche Bündnis
noch in
S.232 weiter greifende Zusammenhänge verwickelt war. Gegenüber den anderen Großmächten ergibt das eine weitgehende Geschlossenheit und Einheitlichkeit der politischen Aktion, bei der das einzige Bedenken gegen die chronologische Anordnung -- die Sorge, daß das Ineinanderflechten heterogener, mehr zeitlich als sachlich zusammenfallender Ereignisreihen die Übersicht erschwert -- nur ein sehr geringes Gewicht besaß.Das Erscheinen der Aktensammlung erfolgte in einem psychologischen Moment, der gerade für die historische Wertung der alten Habsburgermonarchie immer dringender das Hervortreten der dokumentarischen Zeugnisse ihrer Politik erforderte. Die fortschreitende Revision der Kriegsschuldauffassung hatte im Ausland ja gerade vor Österreich fast stets halt gemacht. Die Anerkennung der Nationalitätsidee als einer bestimmenden Kraft der modernen Geschichte ließ immer wieder die Frage, ob die Donaumonarchie nicht zum Anachronismus geworden sei, sich mit dem Zweifel an dem Lebensrecht ihrer Abwehr gegen Serbien verquicken. Das tief ungünstige Urteil, das selbst ein Forscher wie S. B. Fay über die Politik der Doppelmonarchie fällte, bezeichnete deutlich die Lage. Im Grunde steht H. E. Barnes selbst im angelsächsischen Ausland doch recht allein, wenn er diese Fascination in den letzten Jahren immer stärker überwand. Es bezeichnet die Wandlung, die sich schon in den ersten Besprechungen des Aktenwerkes anzubahnen scheint, daß selbst ein so unerbittlicher Kritiker der inneren Struktur Österreich-Ungarns wie A. Rosenberg gezwungen war, anzuerkennen, daß Aehrentals Politik gerade Serbien gegenüber durch relativ kühle Mäßigung ausgezeichnet war, die die Fehler von 1914 vermieden haben würde. Ebenso muß er die Notwendigkeit einer Revision der bisherigen Beurteilung Berchtholds zugestehen, der ein nicht gerade weitblickender, aber durchschnittlich fähiger und fleißiger Diplomat gewesen sei. Diese Ansätze zu einer Urteilsrevision nach den Akten werden bei Rosenberg freilich kompensiert durch entsprechend stärkere Belastung des deutschen Verhaltens in der Annexionskrise 1908/09 und durch betonten Hinweis auf die sehr fragwürdige Ermutigung, die den Österreichern am Beginn der Julikrise durch die privaten Antreibereien Viktor Naumanns vom 1. 7. 1914 gewährt worden sei. Vor allem bleibt bei ihm die Anklage, die österreichische Balkanpolitik habe in hysterischer Ängstlichkeit verkannt, daß ihre Lage seit 1912 durch den serbisch-bulgarischen Gegensatz im Grunde günstiger als vorher geworden sei. Die These österreichischer Offensive, nur gewandelt zur These der Offensive aus falsch verstandener Furcht, ist also bei ihm geblieben und wird -- anstatt aus dem Angriff der großserbischen Propaganda -- nur aus der inneren Verlegenheit der Doppelmonarchie abgeleitet, die geglaubt habe, nach Belgrad marschieren zu müssen, weil sie kein anderes Mittel hatte um Prag, Agram und Sarajewo in Ruhe zu halten. Einem solchen Beharren auf älterer Kritik steht aber doch in der
überwiegenden Reihe der Würdigungen das Zugeständnis entgegen, daß die österreichische Abwehr
gegen Serbien mehr denn je Anspruch auf den Charakter äußerster erzwungener Notwehr erheben kann. Die
große Kette grundlegender Denkschriften, aus denen uns jetzt von der die Annexion Bosniens vorbereitenden
Semmering-Denkschrift Aehrentals zu seiner Hietzinger Denkschrift vom 15. 8. 1909, die das Ergebnis der Krise
feststellte, und den großen prinzipiellen Dokumenten der Berchtholdschen Aera vom 1. 8. 1913 und der bekannten
Denkschrift
S.233 Matschekos vom Juni 1914 die Grundideen der österreichischen Politik entgegentreten, beweist abschließend, daß ihr der Gang der Ereignisse immer stärker das Gepräge der reinen Defensive aufdrückte. Rechnet das erste dieser Zeugnisse noch vage mit der Zukunftsmöglichkeit einer Angliederung Serbiens an die Doppelmonarchie, so wünscht schon die Hietzinger Denkschrift das ganz entschieden zu vermeiden, da Österreich aus Gründen der inneren Politik nicht wisse, was es mit neuem slawischem Länderzuwachs anfangen solle. Die Politik Berchtholds in der Balkankrise von 1912/13 wagt sich überhaupt nicht mehr über den Wunsch heraus, den Vormarsch Serbiens zur Adria und seine Vereinigung mit Montenegro zu verhindern, und scheut den alten Vorwurf des Dranges nach Saloniki so stark, daß sie bereits zu Beginn der Krise auf die Wiederbesetzung des Sandschak verzichtet, obwohl diese am ehesten die Erreichung jenes negativen Zieles gesichert hätte. Der Verlauf der Krise belehrte sie endgültig über die völlige Unvereinbarkeit der serbischen Ansprüche mit der Existenz des eigenen Staates. Trotzdem blieb die Ablehnung gegen jede Annexion serbischen Gebietes bestehen, weil auch Berchthold die Unmöglichkeit einer Assimilation unter der bestehenden Form der Doppelmonarchie anerkennen mußte. Bis zum Thronfolgermord des Juni 1914 bleibt also die Politik Österreich-Ungarns streng in den Grenzen der Abwehr, die zuletzt durch ihr Verlangen nach einer Förderung der bulgarischen Rivalität gegen Serbien erreicht werden sollte.Es kann demnach über den defensiven Charakter des Verzweiflungsstoßes der Gegenwehr zu dem man nach dem Ereignis von Sarajewo schritt, historisch um so weniger ein Zweifel bestehen, als die österreichischen Akten zeigen, daß die Informationen Wiens über Ziel und Umfang der großserbischen Propaganda sehr viel gründlicher gewesen sind, als man nach dem taktischen Ungeschick von 1914 vermuten konnte. Es stellt sich heraus, daß die Diplomatie Österreichs nicht nur über die Narodna Obrana, sondern ebenso auch über die Offiziersverschwörung der Schwarzen Hand von allem Anfang unterrichtet gewesen ist. Das völlige Versagen vor der Aufgabe, die Welt über die Grundlagen der eigenen Abwehrnotwendigkeit zu informieren, das bereits in dem kläglichen Fiasko des hier eingehend berücksichtigten Friedjung-Prozesses zutage tritt, erscheint dadurch freilich nur noch krasser und weist darauf hin, daß die Aktionen der österreichischen Politik wohl auch durch die Rückwirkungen des inneren Zersetzungsprozesses auf die Diplomatie bedenklich belastet waren. Ein historischer Prozeß von
besonderem Reiz, den die reichen Stoffmassen der Publikation jetzt Schritt für Schritt zu beleuchten gestatten, ist
die sehr problematische Entwicklung des deutsch-österreichischen Bündnisverhältnisses, das trotz der
deutschen Nibelungentreue in seinen steten Reibungen und unerfreulichen Spannungen deutlich zum Spiegel für das
wachsende Gefühl unerträglicher Belastung und Unsicherheit im Lager der faktisch eingekreisten
Mittelmächte wird. Die Entwicklung der Vorkriegsjahre mutet durch diese nähere Kenntnis bereits als tragisches
Vorspiel des Auflösungsprozesses an, den das Bündnis im Weltkrieg erfahren hat. Nach dem Zeugnis der Akten ist
der Prozeß gegenseitiger Beschwerden, weil man glaubt, durch den Bundesgenossen politisch belastet zu sein, von
österreichischer Seite schon während der Annexionskrise in vollem Gange. Eine Abhandlung von E.
Kabisch (
1075) konnte sich ausdrücklich die Auseinandersetzung mit den Klagen
Aehrentals
S.234 zur Aufgabe stellen, der die feindselige Haltung Englands gegen die Doppelmonarchie nur durch das Bündnis mit Deutschland erklären wollte und ganz übersah, daß der Annexionsvorstoß gegen die junge Türkei, die England direkt betreffenden Meerengenbesprechungen von Buchlau, die Iswolski der Entente zu entfremden drohten, schließlich das englische Unbehagen über das staatsrechtlich fragwürdige, einseitige Vorgehen Österreichs mit der Annexionserklärung selbständige Ursachen der Entfremdung zwischen London und Wien waren, wie dies auch durch die englischen Akten bestätigt wird.Dies Thema der
deutsch-österreichischen Entfremdung steht im Mittelpunkt der ersten Auswertung größeren Stiles, die das
neue österreichische Material überraschend schnell in Fr. Stieves gehaltvollem Buch über
die Tragödie der Bundesgenossen (
1071a) gefunden hat. Stieve gibt nach dem neuen Material zum erstenmal eine
eingehendere Darstellung des neuen Bildes der Annexionskrise, um dann von 1909--1913 die lange Kette steter Reibungen
zwischen den Mittelmächten aufzuzeigen. Wurzelnd in der unglücklichen europäischen Situation der beiden
eingekreisten Staaten tritt in der Politik beider Mächte immer wieder die Tendenz auf, sich voneinander zu
lösen, ein lockeres, Entrinnen gestattendes Glied in der Gegenkoalition zu finden. Der von deutscher Seite bis zum
Herbst 1913 festgehaltenen Politik, sich nicht zum zweiten Male im Ausmasse der Annexionskrise für
österreichische Balkanziele festlegen zu lassen, entspricht Ährenthals scharfe Ablehnung gegen eine
Verwicklung in eine zweite Marokkokrise. Dank der größeren Schwäche der Doppelmonarchie zeigt ihre
Politik auch die Merkmale der größeren Gereiztheit, wenn immer wieder die deutsche Balkanreserve als
Verleugnung der Grundlagen des Bündnisverhältnisses angegriffen wird. Auch diese Reibungen in der Koalition
der Mittelmächte verstärken schließlich den Eindruck der Zwangsläufigkeit in der großen
Endkatastrophe, da weder Ährenthal mit seinen Versuchen, ein besseres Verhältnis zu Frankreich zu
begründen, noch die deutsche Politik mit dem hier besonders stark hervortretenden Anlauf der Potsdamer
Besprechungen mit Rußland im Jahre 1910, die Ährenthal tief verstimmten, bleibenden Erfolg erzielten. Keiner
der beiden Bundesgenossen vermochte sich dem zwingenden Druck der allgemeinen Lage zu entziehen, wie sie sich seit der
Jahrhundertwende allmählich gebildet hatte. Auch aus den österreichischen Akten bleibt so der Eindruck,
daß der Bereich persönlich freier Entscheidung an der Schwelle des Weltkrieges für die Staatsmänner
der Mittelmächte immer schicksalsvoller verengt war. Der schwächere Teil der beiden großen
europäischen Staatengruppierungen stand mit noch größerer Stärke als die Gruppe der Ententestaaten
unter dem Gesetz der eigenen Fehler seit dem Beginn des Neuen Kurses und sah die Möglichkeit zu einer Korrektur der
grundlegenden falschen Weichenstellungen immer geringer werden, bis schließlich 1914 tatsächlich die Existenz
der Doppelmonarchie als des letzten und einzigen Bundesgenossen, den Deutschland trotz des paradoxen Gegensatzes zur
inneren Stärke seines Volkstums noch besaß, in Frage gestellt war. Der Entschluß, der Katastrophe
auszuweichen und lieber die Krisenmöglichkeiten passiven Abwartens zu erproben, hätte 1914 eine heroische
Entschlossenheit verlangt, die am wenigsten eine Politik aufzubringen vermochte, die die Verstrickung dieser Lage vor
allem durch Ausweichen vor Entscheidungen von ernster Schwere heraufbeschworen hatte. Auch in der Tragödie des
denaturierten bismarckischen Zweibundes mit Österreich
S.235 wird so letzten Endes die defensive Schwäche deutlich, die gleichmäßig die Politik Deutschlands und Österreichs vor dem Weltkriege am tiefsten charakterisiert. |
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