VI. Sozialismus und Anarchismus.Brandis betrachtet seine Arbeit über die deutsche Sozialdemokratie bis zum Fall des
Sozialistengesetzes (
1353) als Vorarbeit einer Darstellung der linken Opposition in der deutschen
Sozialdemokratie (R. Luxemburg, Pannekoek, Mehring). Im Gegensatz zu der Auffassung in Mehrings Geschichte der
Sozialdemokratie will er zeigen, daß die Marx- Engelssche Theorie nie entscheidenden Einfluß auf die
Strategie und Taktik der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland gewonnen hat und daß ihr
»Marxismus« stets nur eine Ideologie gewesen sei. Auch nach der Vereinigung der beiden Flügel
Bebel-Liebknecht (Marx-Engels) und Schweitzer (Lassalle) habe der Lassalleanismus trotz der marxistischen Terminologie
fortgewuchert. Lassalle habe als konsequenter Demokrat von 1848 in der Herstellung des allgemeinen Wahlrechts den
entscheidenden Akt zur Durchsetzung der »Idee des Arbeiterstandes« gesehen, während Marx
gemäß seiner Theorie von der proletarischen Diktatur in der parlamentarischen Republik den »reinsten
Ausdruck der Klassenherrschaft der Bourgeoisie« sah, deren Sturz erst dem Keime nach den Triumph der
proletarischen Revolution in sich enthält. Ebensowenig habe die Verfolgung durch das Sozialistengesetz an dem
»Lassalleanismus« der Partei etwas geändert. B. lehnt die parteioffiziöse Darstellung Mehrings ab,
nach der die Sozialdemokratie in dem »großen Gang dieses zwölfjährigen Heldenkampfes
S.285 einen modernen Staat mit seinen ungeheueren Machtmitteln besiegt habe«. Liebknecht stellte im Reichstag ausdrücklich in Abrede, daß die Partei nach dem Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung strebe. Sie ließ die Standhaftigkeit vermissen, die ihre Anhänger von der bisher radikalsozialdemokratischen Oppositionspartei erwarteten. Wenn jetzt Vollmar die gewaltsame Eroberung der Macht und die Diktatur des Proletariats für notwendig erklärte, so geschah es unter dem Zwang der von Bismarck begonnenen Verfolgung aus taktischen Erwägungen.Br. ist der Ansicht, daß die inneren Schicksale der Partei zum großen Teil durch die von Bismarck vertretenen Klassenkräfte und den von ihm beherrschten Staatsapparat bestimmt wurden. Grade unter dem Sozialistengesetz sei der parlamentarische Charakter der Sozialdemokratie voll ausgebildet worden. Die Mäßigung ihrer Politik in der Sorge vor einer Rückkehr der Verfolgungen des Sozialistengesetzes in der Zeit nach 1891 war ein Erfolg Bismarcks. Es ist sehr zu begrüßen, daß in diesem Buch endlich einmal die Behauptung abgelehnt wird, Bismarcks Sturz sei im wesentlichen ein Erfolg der Sozialdemokratie gewesen. Zusammenfassend stellt Br. fest, daß die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz eine widerspruchsvolle Entwicklung durchlaufen habe; eine Radikalisierung der Ideologie und eine Verstärkung der opportunistischen Züge ihrer Praxis. Er hofft, durch seine Darstellung die Legende zerstört zu haben, daß sie seit dem Erfurter Programm ein halbes Menschenalter hindurch den revolutionären Marxismus vertreten und daher die Aufnahme einer klassenfriedlichen nationalen Politik am 4. August 1914 eine radikale Schwenkung gewesen sei. Tatsächlich seien die Voraussetzungen für diese Politik bereits in ihren Anfängen und beim Fall des Sozialistengesetzes geschaffen worden. Wen in diesem Zusammenhange die Anfänge anarchistischer Opposition in der Sozialdemokratie als Folge des Gesetzes von 1878 interessieren, auf die schon Brandis eingeht, findet in Nettlaus »Anarchisten und Sozialrevolutionäre 1880--86« ( 1356) in den Abschnitten »Anarchistische Anfänge im deutschen Sprachgebiet bis 1878, Eugen Dühring« und »Johann Most und die Londoner Freiheit 1879 bis Frühjahr 1881«, reiches Material. Wie schon die zahlreichen früheren apologetischen Bücher N.s über den Anarchismus und seine Verkünder (vgl. Jberr. 1. S. 359), zeichnet sich auch dieses Werk bei völligem Mangel an Objektivität durch umfassende Beherrschung der Literatur und fortwährende Zitate aus teilweise schwer zugänglichen Quellen aus. Freilich sind diese zweifellos vielfach aus dem Zusammenhang herausgerissen und mit Vorsicht zu benutzen, aber sie geben doch Anhalt, wie man zu den Quellen vordringen kann. In den erwähnten Kapiteln ist besonders die Stellung von Karl Marx zum Anarchismus mit zahlreichen Zitaten belegt und das Schicksal von Johann Most und seiner für die Bewegung wichtigen Zeitschrift »Freiheit« behandelt, die er trotz aller Verbote immer wieder von London nach Deutschland hinüberzuschmuggeln verstand. Ein späteres Kapitel über die anarchistische Propaganda und die sozialrevolutionären Strömungen in den deutschsprechen- Ländern 1881--86 ist weniger ergiebig, wenn es auch etliche Notizen über Reinsdorf, Most, Werner und andere deutsche Anarchisten der Tat und des Worts bringt. Die übrigen Abschnitte behandeln im wesentlichen Anarchismus und Sozialismus in den anderen Ländern der Welt. |
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