2. Orthodoxie und Pietismus.Nur kleinere Arbeiten
behandeln Fragen aus dem Zeitalter der Orthodoxie. Immerhin bietet die Hallesche Universitätsrede
Kohlmeyers über die Staatsanschauung Gustav Adolfs auf wenigen Seiten eine Fülle von neuen
Gedanken <
1206>. Das Wesen der altlutherischen Staatsauffassung wird von der des
Grotius geschieden. Gustav Adolf, dessen Lehrer Skytte ihm Melanchthons Auffassung von Politik und Naturrecht vermittelt
hat, ist der politische Mensch des Altluthertums. Das Ganze ist von einer ablehnenden Kritik an Troeltschs
Überschätzung des kalvinischen politischen Menschen getragen. Auch in die Zeit des Dreißigjährigen
Krieges greift Haases Dissertation über den Chiliasmus ein <
3314>. Damals lebte der Chiliasmus von schärfster Kritik an der
Kirche, wofür Johann Warner und kein geringerer als Comenius selbst als Zeugen genannt werden. In die Aufbauarbeit
der Nachkriegszeit führt die Abhandlung von P. Schwartz über die Kämpfe des Prenzlauer
S.506 Geistlichen David Malichius ein, der für die Selbständigkeit der Kirche gekämpft hat < 3202>. Auch Katechismusunterricht, Kirchenzucht, Wegfall lateinischer Lieder im Gottesdienst, Sicherung des kirchlichen Vermögens und Einkommens des Geistlichen, Rechnungsablegung für Kirche und Hospital wurden gefordert. Eine Versammlung von Geistlichen nahm sich dieser Vorschläge an, die M. sogar vor dem Großen Kurfürsten vertreten hat. Aber die Landstände lehnten alles ab, da sie in der Schmälerung der kirchlichen Rechte des Kurfürsten Aufsässigkeit und Aufruhrgeist vermuteten. --Rahe entreißt mit seiner Lasseniusbiographie wieder eine Gestalt des orthodoxen Luthertums der Vergessenheit < 3186>. L. gehört durchaus zur Orthodoxie. Für die reine Lehre kämpfte er gegen Kalvinismus, Synkretismus und Aufklärung und schlug als Nachfolger in seinem Kopenhagener Pfarramt Joh. Fecht oder Aug. Pfeiffer vor, die großen Bekämpfer des Pietismus. Aber es war lebendige Orthodoxie. Er schuf sich nicht bloß als Erbauungsschriftsteller, Kirchenlieddichter und Prediger einen Namen, sondern setzte sich auch für die Erneuerung des geistlichen Standes, die praktische Betätigung des Laienchristen und die Belebung des Bibelstudiums ein. Aus allen Besserungsvorschlägen spricht die Überzeugung, daß seine Kirche das Evangelium hat, das allein die Kräfte zur Wiedergeburt geben kann. -- Aus altem orthodoxen Theologengeschlecht Württembergs stammt Johannes Osiander, dessen vielbewegtes Leben zur Darstellung geradezu reizt < 3256>. Seine Volkstümlichkeit, die sich auf sein mannhaftes Eintreten beim Franzoseneinfall 1688 gründet, ist in Württemberg lebendig geblieben. Auch Schuster trägt dieser Stellung Osianders Rechnung, wenn er die Biographie in einer wissenschaftlichen und einer mit Bildern geschmückten Volksausgabe herausbringt. Ein reiches Leben zieht vorüber: O. war Theologe, Professor und Gelehrter; die Zeitverhältnisse machten ihn zum Staatsmann, Diplomaten und Vormund der Prinzen; als Direktor des Konsistoriums und Assessor des engeren Ausschusses der Landschaft griff er in das Leben der württembergischen Kirche entscheidend ein, deren Umbildung von Aufklärung und Pietismus gebieterisch verlangt wurde. Die Unterredung zwischen Francke und Osiander im Jahre 1717, die Sch. eingehend würdigt, zeigt den kirchlichen Sinn des Halleschen Pietisten. In seiner kirchlichen Machtstellung blieb Osiander stets der Theologe, der die Vergangenheit seiner Kirche so hoch schätzte, daß er für die Fortbildung des alten Kirchenwesens, nicht für die Neubildung, eintrat. Nur zögernd hat er den Reformierten und Katholiken das Kultusrecht zugestanden. Der Union gegenüber verhielt er sich ablehnend. -- Mit Brauns Werk über den Perückenmacher Tennhardt schließt sich eine Lücke in der pietistischen Forschung < 3188>. Die Bedeutung dieses pietistischen Laienpredigers war schon längst in großen Zügen erkannt, aber noch nicht allseitig nachgewiesen. Br. gibt ein geschlossenes Bild der Anschauungen Tennhardts, die teils pelagianischen, teils mystischen Geist atmen. Außerdem war T. der Prophet einer neuen Gestaltung aller Dinge. Aus dem, was er zur Umgestaltung von Familienleben, Wirtschaft, Staat beibringt, läßt sich eine kleine Staatsutopie zusammenstellen. -- Th. Wotschke, der in den verschiedensten territorialen Zeitschriften seine Briefpublikationen fortsetzt, weist nach, daß Franckes Anhängerschaft auch im niederen Volk zahlreich war < 3221>, so daß man also keineswegs, wie es bisher geschah, Franckes Verbindung mit dem Adel überschätzen darf. -- Wirklich neue Gesichtspunkte verraten einige Arbeiten, dieS.507 den kulturellen Wirkungen des Pietismus nachgehen. An erste Stelle sei Grüns Arbeit über Speners soziale Leistungen gestellt < 2776>. Gr. gibt zunächst die Entstehungsgeschichte des auf Speners Einfluß zurückgehenden Armen-, Waisen- und Arbeitshauses in Frankfurt, das die Reform des Armenwesens in Berlin und darauf in den brandenburgischen Ländern bestimmt hat. Es ist selbstverständlich, daß Speners Stellung zum Sozialproblem ein Stück seiner praktisch-religiösen Reformtätigkeit war. Doch gerade in der Neugestaltung des Armenwesens sah er die Aufgabe des Staates, wenn auch die Bürger die Geldmittel aufzubringen haben und die kirchlichen Behörden an der Verwaltung beteiligt werden. Ist damit die Säkularisierung der Armenfürsorge eine Folge der Anschauungen Speners? Auch hier wäre dann ein Unterschied zwischen Sp. und Francke festzustellen, da letzterer seine Anstalten auf religiös-individualistische Liebestätigkeit aufbaute. -- In Glorias Studie über den Pietismus als Förderer der Volksbildung < 3423> wird Franckes Einfluß auf das preußische Volksschulwesen gezeigt. Da bisher Fr.s pädagogische Reformen meist allein im Blick auf das höhere Schulwesen behandelt wurden, wird eine solche Arbeit zur Vervollständigung unseres Wissens über Fr. begrüßt werden. Dabei ist der zeitliche Raum von Gl. sehr weit abgesteckt. Bis zum preußischen Regulative von 1854 werden pietistische Einflüsse nachgewiesen. Gl. sieht den Grundzug Hallescher Pädagogik darin, daß alles auf Erziehung eingestellt ist. Gebet, Katechismus, Bibel u. a. sind nicht Lern-, sondern Erziehungsmittel. Der Lehrer ist Erzieher. Deshalb wird die Aufsicht besonders gepflegt. -- Besondere Bedeutung scheint auch Pinsons Werk über die Beziehungen zwischen Pietismus und deutschem Nationalgefühl zuzukommen. Leider kenne ich es nur aus der Besprechung Meineckes in der Hist. Z. < 3368>. Der amerikanische Historiker J. H. Hayes ist in Fortführung der Arbeiten Webers und Troeltschs dem Zusammenhang zwischen religiöser Gesinnung und nationalem Sinn nachgegangen, und nun untersucht sein Schüler P. die Verbindungen, die sich vom Pietismus zu den Vorkämpfern des nationalen Deutschlands knüpfen lassen. Die Reden Fichtes und die patriotische Lyrik von 1813 sind mitbehandelt. -- Aus der Geschichte der Brüdergemeine sei nur auf Bechlers Arbeit über Spangenberg und die Mission verwiesen < 3187>, die neben Reichels Spangenbergbiographie unbedingt ihre Berechtigung hat. Die Vorbereitung der Mission im Ausland zeigt Sp. als gewandten Diplomaten; die eigenen missionarischen Fähigkeiten bestehen in der langjährigen Missionstätigkeit ihre Probe; nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er der Organisator der Mission und stellt schließlich als Senior der Mission die Richtlinien für die Äußere Mission fest, so daß er als Begründer der Missionslehre anzusehen ist. Dazu kommen andere Verdienste, die mit der Mission zusammenhängen, aber viel weiter greifen. Er hat die Gefahren, die in der sog. Sichtungszeit drohten, vom Missionsland abgewehrt und auch den rationalen Geist überwunden. |
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