3. Das 19. Jahrhundert.Während die deutsche
Aufklärung diesmal ganz unberücksichtigt bleiben kann, müssen zur
Schleiermacher-Forschung einige Werke genannt werden. Freilich ist dabei strengste Auswahl notwendig, da
die hundertjährige Wiederkehr des Todestages Schleiermachers in vielen theologischen Zeitschriften, vor allem in
der Zeitschrift für Theologie und Kirche, die sein Erbe besonders pflegt, starken Widerhall fand. Hier hat
Mulert eingehend über die neuere Literatur und Torsten Bohlin über
Schleiermachers
S.508 Stellung in der schwedischen Theologie berichtet (N. F. 14. u. 15. Jg.). Mulert ist auch der Herausgeber von H. Meisners Büchlein über Schl.s Lehrjahre, das Diltheys Werk nach der biographisch-historischen Seite auf Grund des handschriftlichen Nachlasses Schl.s glücklich ergänzt < 3193>. Seine Vorfahren sind geschildert, die Drossener Zeit in ihrer ganzen Bedeutung hebt sich ab, Einzelheiten aus den beiden theologischen Prüfungen werden vermittelt, neue Personen, wie Schl.s Base Benecke, tauchen auf, Übersetzungen englischer Reiseromane fallen in die Zeit erster literarischer Wirksamkeit. So vermittelt dies Buch viele neue Kenntnisse, die zur Zeichnung des jungen Schleiermacher unentbehrlich sind. -- Das neue große Schl.-Werk, das v. Ungern-Sternberg herausgebracht hat, zeigt wiederum den glänzenden Kenner und feinen Gestalter < 3191>. Diesmal wird das -- in weitem Sinne -- politische Wirken Schl.s an der Neugestaltung von Staat und Volkstum geschildert. Es ist gewiß ein Werk, das durch die starke Welle völkischen Lebens unserer Tage getragen wird, aber stets auf dem Boden sachlicher Wissenschaftlichkeit bleibt. Die Arbeit Holsteins über Schl.s Staatsphilosophie wird weitergeführt und nach der pädagogischen Seite hin vervollständigt. Man kann bei Schl. von der Eigenständigkeit, aber nicht Eigenmächtigkeit des Staates sprechen. -- Gerade der Historiker wird eine Arbeit über den Kirchenhistoriker Schl. begrüßen < 3190>, vor allem, wenn neben kleineren historischen Untersuchungen die Vorlesungen nach einer besseren Nachschrift als sie bisher bekannt war, zugrunde gelegt sind. In dem zunächst vorliegenden 1. Band behandelt Jursch die beiden entscheidenden Fragen: Schl.s Eignung zum Historiker und seine Stellung zur Geschichtsphilosophie. Dabei wird die ältere Forschung im positiven Sinn berichtigt und ergänzt. Überaus gründlich sind darauf die geschichtstheoretischen Grundlagen der Kirchengeschichte Schl.s untersucht worden, so daß eine Fülle von trefflichen Beobachtungen erscheint. Ich denke an die Ausführungen über Individuum und Masse als geschichtsbildende Mächte oder über die historische Gliederung, die wohl auf Schroeckh zurückgeht, aber inhaltlich schlechthin neu begründet wird. -- Im übrigen steht das letzte Jahrhundert des deutschen Protestantismus ganz im Zeichen der großen Biographien, und es scheint, als ob dies auch weiterhin bleiben soll. Wenn dabei Sinn und Aufgabe der Biographie so verfaßt sind wie bei Bauer in seiner Hausrathbiographie < 3340>, dann wird die allgemeine Kirchengeschichte daraus größten Nutzen ziehen. Denn im 1. Band, der H.s Leben bis zur Berufung in das Heidelberger Lehramt verfolgt, nimmt die Schilderung der Theologischen Fakultäten der Zeit großen Raum ein. Man erlebt den Kampf des Pietismus und des mit ihm verbündeten Konfessionalismus mit der Aufklärung und dem Liberalismus mit. Die ganze Jugendzeit H.s ist erfüllt vom Gegensatz zum Pietismus, über den er unglaublich hart urteilt. -- Gleichzeitig hat ein großer Vertreter des von H. so stark bekämpften Neuluthertums einen Biographen erhalten. Freilich liegt Th. Heckel in seinem Werk über Harless < 3269> mehr an einer theologischen Würdigung als am Biographisch-historischen. Denn das Lebensbild: Bildungsgang, der theologische Lehrer, die sächsischen Dienstjahre und der Präsident des bayerischen Oberkonsistoriums ist nur knapp wiedergegeben. Immerhin ist gerade hier ein Stück von allerhöchster Bedeutung. Die Überwindung der Krise des Konfessionalismus in Bayern mit ihrer Gefahr der Spaltungstendenzen ist Harless' Werk. Bedeutsam ist der Hinweis, daß seine erste größere theologischeS.509 Veröffentlichung die Auslegung des Epheserbriefs ist. Das war ein Programm für eine kirchliche Theologie. H. stellt deshalb mit vollem Recht die Theologie stets in der Beziehung zur Kirche dar: Kirche und Kirchentum, Kirche und Politik, Kirche und Kultur. Dabei wird auch der Kampf gegen die politische Christlichkeit Stahls gestreift. Aber es liegt über den letzten Jahren von Harless' Leben tiefe Tragik. Die einigenden Kräfte des deutschen Protestantismus konnte er nicht würdigen. Ebensowenig hat er das neue Preußen und Deutschland unter Bismarcks Führung verstanden. Fein sagt Heckel am Schluß: »In der bayerischen Kirche selbst war seine Autorität getragen von der Erinnerung an seine bedeutsame Vergangenheit. Man hatte Geduld mit seinem Alter, weil man seine Jugend liebte.« -- Bilder aus der Erweckungs- bewegung geben zwei andere große Biographien. Zunächst schildert Hermes das Leben Herm. Heinr. Grafes und damit ein Stück der westdeutschen Gemeinschaftsbewegung < 3235>. Gr. ist der Begründer der ersten freien reformierten Gemeinde in Elberfeld-Barmen 1846. Es ist ein eigenartiges Leben: er, der als Hannoveraner lutherisch war, lernte die église libre Monods in Lyon kennen, kam unter den Einfluß der rheinischen Erweckung, lebte sich in das reformierte Kirchentum ein, nahm für seine Gemeindegründung die Eglise libre évangélique de Génève zum Vorbild und kämpfte nunmehr gegen das erbliche Massenkirchentum. Da H. sich auch mit Darbysmus und Baptismus auseinandergesetzt hat, ist hier ein wichtiges Stück der freikirchlichen Bewegung gegeben. Infolgedessen wird dieses Werk trotz der Einstellung auf eine große Lesergemeinde auch von der Wissenschaft dankbarst aufgenommen werden. Dasselbe gilt von H. Luckeys Onckenbiographie, die neben dem Zeitbild, das den Kampf der Hamburger Behörden gegen die neuen Schwärmer widergibt, viel konfessionskundliches Material enthält < 3197>. L. sieht in Oncken den Gründer der ersten deutschen Baptistengemeinde mit ihrem besonderen Gepräge: kalvinisch-independentisch-presbyterianisch mit geschlossener Kommunion und apostolischer Taufpraxis. Dagegen hat sich die Führerstellung, die O. bei der Gründung der Hamburger Gemeinde zufiel, im Bundeswerk selbst nicht wiederholt. Scharf sind in diesem Buch die einzelnen Richtungen und Männer unter den Taufgesinnten vor einem Jahrhundert auseinandergehalten. Oft begegnen uns im Freundeskreise O.s dieselben Männer, die auch Möller in seinem Buch Männer um Wichern < 3195> schildert. Es sind ausgewählte Lebensbilder der Männer, die Wicherns Entwicklung bestimmt oder am Aufbau seines Werkes in Hamburg mitgeholfen haben -- Theologen, Lehrer, Künstler, Staatsmänner, von denen manche in den staatlichen Bindungen der Kirche die Ursache ihres Niederganges gesehen haben. Dieses Buch -- eine schöne Festgabe zum Jubiläum des Rauhen Hauses -- wird die Wissenschaft zur Ergänzung des Wichernwerkes von Gerhardt heranziehen müssen. Gerhardt selbst hat inzwischen den 1. Band des Lebensbildes von Th. Fliedner erscheinen lassen < 3196>, das man nicht ohne innere Bewegung lesen kann. Das heroische Ringen der winzigen Diasporagemeinde Kaiserswerth um ihren Bestand, die Kollektenreisen Fliedners, die Verhältnisse in den Gefängnissen, die Lage der entlassenen Häftlinge, die Gründung des Kaiserswerther Asyls -- all das ist packendes Geschehen, wie man es selten miterlebt. Auch auf den Kampf um Agende und Kirchenverfassung geht G. ein. Hierzu könnte man Wendlands Arbeit über die Entstehung des Oberkirchenrats heranziehen < 3204>, da hier der UnterschiedS.510 zwischen der rheinisch-westfälischen Einstellung und der in den östlichen Provinzen Preußens klar herausgearbeitet wird. Im übrigen betont W. die Abhängigkeit der kirchlich-organisatorischen Entwicklung von der politischen Lage. Dagegen kommt Gerhardts eigene Schrift zur Vorgeschichte der Reichskirche < 3189> nicht eigene Bedeutung zu. Es ist ein warmherziger Appell an die deutschen evangelischen Christen, aus der Geschichte der Einigungsbestrebungen des 19. Jh.'s zu lernen und sich für die Reichskirche einzusetzen. -- Durch K. Groot wird noch ein weiteres Werk zur Geschichte der Erweckung vorgelegt < 3194>. Mag es auch manches Neue zur Geschichte des holländischen Réveil bringen, sind doch für deutsche Verhältnisse neue Gesichtspunkte nicht gewonnen. In der Gesamtbeurteilung ist Lütgerts Auffassung übernommen, daß die Erweckung trotz mannigfacher geschichtlicher Zusammenhänge mit dem alten Pietismus keine Fortsetzung desselben ist. |
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