II. Darstellungen.Zunächst sind einige Gesamtdarstellungen des MA. hier zu erwähnen. Calmette <1933/34, 971> schildert in einem als Lehrbuch für die Universität bestimmten Werk das MA. bis 1300 mit starker Hervorhebung der Verfassungszustände. Einseitig gegen Heinrich IV. eingestellt, bezeichnet er die deutsche Kirche im 11. Jh. als die korrumpierteste; von Johann XII. und Benedikt IX. scheint er nichts zu wissen. Merkwürdig leise tritt C. im 13. Jh., wo man gar nichts von der Weltpolitik Karls von Anjou und der französischen Ausdehnungspolitik gegen Deutschland liest. Sehr populär ist Mills < 690> gehalten, den kirchliche Dinge und Kunst am meisten interessieren; daß für den Amerikaner englische Geschichte im Vordergrund steht, ist selbstverständlich. Stephenson < 689> ist umfassender und sachlicher als die beiden vorigen; wertvoll ist die starke Berücksichtigung der Literatur, die Völkerwanderung wie Byzanz sind ziemlich vernachlässigt. Die Mehrzahl der anderen Darstellungen gruppiert sich um zwei Hauptpunkte; den einen bilden
die scheinbar umstürzenden Thesen von Krusch <1932,
669> über die Geschichte Chlodwigs, den andern das durch die Namen
Karls des Großen
S.213 und Widukinds umschriebene Problem der Geschichtsauffassung über das deutsche MA. überhaupt. Zuerst seien also die Chlodwigfragen erörtert.Im Jahresbericht 1932 hat der damalige
Berichterstatter sehr vorsichtig seine Zweifel gegen die Datierung der Taufe Chlodwigs auf 507 <1932, S. 182>
geäußert, als er Kruschs Aufsatz über die Taufe Chlodwigs besprach. Krusch <1933/34,
976> hat mit seinem glühenden Haß gegen alle ma.'lichen Quellen
(der an Kammeier erinnert) -- trotzdem hat Krusch sein Leben der Untersuchung dieser Quellen gewidmet und viel dabei
geleistet --, seinen Kritiker Steinen niederzuschlagen gesucht. Daß die Grundlage seiner ganzen Deutungen die
Konjektur »permisit« statt »promisit« darstellt, die er mit seinem Glauben an eigene
Unfehlbarkeit verteidigt, hat er dabei möglichst in den Hintergrund geschoben. Methodisch ist der oberste Grundsatz
nach Rickert, daß Geschichte nur aus dem Zusammenhang verstanden werden kann; man kann nicht einen Satz gegen alle
andern ausspielen, wie man nicht eine Pyramide auf die Spitze stellen kann. Je mehr an solchen merkwürdigen
Gedanken Krusch niederschreibt, um so kritischer wird man auch seine älteren Werke zu betrachten haben. Was K.
<1933/34,
979> über Chlodwigs angebliche Kaiserkrönung behauptet, ist in
gleicher Weise völlig ohne Beachtung aller übrigen Zusammenhänge (Titel, Münzen, Verfassungsfragen),
die für Krusch nicht existieren, aus dem einen Wort »augustus« aufgetürmt. Beide Thesen haben die
deutsche Geschichtswissenschaft keinesfalls bereichert. Zur Frage der Taufe Chlodwigs hat von den
Steinen <1933/34,
973--975> Stellung genommen. Im letzteren Aufsatz werden K.'s Unterlagen
kritisch untersucht. St. verweist auf die Darstellung des Nicetiusbriefes, daß Chlodwig die Burgunder und
Westgoten erst nach seiner Taufe besiegte, worauf auch im Jahresbericht von 1932 verwiesen ist; er stellt dann vor allem
fest, daß die Auslegung von K. auf einer Konjektur Frehers von 1613 »baptizare ... permisit« statt
»promisit« beruht. Dann beweist St., daß die Briefe des Avitus nicht zeitlich geordnet sind, wogegen
sich Krusch auf Binding beruft; schließlich nimmt er Gregor von Tours gegen die Beschuldigungen von Krusch in
Schutz. Der zweite Aufsatz <1933/34,
974> ist zu breit; es wird versucht, darzutun, daß alles, was Gregor
von Tours über Chlodwig wußte, auf zwei Quellen beruhte; die eine war Tradition in Tours, die sehr glaublich
auf die dort 544 nach 30jährigem Aufenthalt verstorbene Gattin Chlodwigs, Chrodichilde, zurückgeführt
wird, die andere über Bischof Remigius von Reims, die -- sehr unwahrscheinlich -- Bischof Aegydius von Reims dem
Geschichtschreiber gebracht haben soll. Zur Klärung der Datierung der Taufe werden die gleichzeitigen liturgischen
Bestimmungen über die Taufe herangezogen. St. ermittelt, daß um 500 ein Jahr Katechumenat, dann feierliche
Bitte (Kompetieren) um die Taufe und erst nach etwa 40 Tagen die Taufe selbst üblich waren. Er findet alle diese
Momente in Gregors Darstellungen, sieht in der Angabe des Nicetius ein am 11. November, dem Martinstag, in der
Martinskirche abgegebenes Taufversprechen und im Brief des Avitus die Antwort auf die Einladung Chlodwigs zum Taufakt
zugleich mit dessen Erklärung, um die Taufe zu kompetieren. Die Kopenhagener Prosperfortsetzung und Gregors Angaben
über seine Vorgänger in Tours gestatten die Annahme, daß beim Zug Chlodwigs gegen Bordeaux 498 ein
Aufenthalt des Königs in Tours möglich war. Damit ermittelt St. Weihnachten 498 oder 499 als Taufjahr.
Levillain <
698> ist von den Steinen im wesentlichen gefolgt, hat jedoch einzelne
Auslegungen desselben im Brief des Avitus beanstandet. Steinens dritter Aufsatz <1933/34,
973> zeichnet
S.214 die Bedeutung von Chlodwigs Taufe gegenüber dem System, das Theoderich d. Gr. mit seinen Germanenreichen errichtet hatte. Mir scheint St.s Arbeit einen Fortschritt gebracht zu haben, ich möchte zustimmen und nur an dem einen Punkt widersprechen, daß Gregor seine Datierung der großen Ereignisse in Chlodwigs Leben von fünf zu fünf Jahren nicht aus Annalen entnahm, sondern mangels jeder festen Angabe errechnet hat. Krusch verdächtigt Gregor, zu unbekannten Zwecken die Taufe in Gregors Bischofstadt Tours und das Konzil von Orléans 511 absichtlich verschwiegen zu haben aus Konfessionshaß; das sind keine Beweisstücke. Zu der Kaiserthese von K. hat sich Günter <1933/34, 978> geäußert, der darauf hinweist, daß das Diadem als Abzeichen des Patrizius galt (z. B. i. J. 1061) und daß eine lange Reihe germanischer Heerführer im 5. Jh. Patrizier waren. Schmidt <1933/34, 979a> verweist darauf, daß die germanischen Könige bei der Unabhängigkeitserklärung von Byzanz jedesmal das Diadem annahmen, als erster Gunthamund bei den Vandalen, auch Theoderich wurde inschriftlich einmal Augustus genannt und war nur Patricius. Den Patriziat des Chlodwig lehnt Schmidt < 700> merkwürdigerweise ab. Daß keiner der Kritiker auf die Titulatur der Frankenkönige kam, wundert mich; in den Varien Cassiodors wird der Patricius als »vir illustris« bezeichnet; »inluster vir« ist im 7. und 8. Jh. der Titel der Merowinger; im Liber Diurnus (7.--8. Jh.) wird der Patricius (Exarch von Ravenna) als »excellentissimus« angesprochen; den gleichen Titel führt der Langobardenkönig. Damit ist die Idee der germanischen Großkönige, Patrizier zu sein wie die Heerführer des 5. Jh.'s., eindeutig dargetan und die sog. Kaiserkrönung Chlodwigs geklärt. Eine sehr breite Biographie Chlodwigs hat Gorce < 697> geliefert, wobei G. Kurth, Clovis, seine Hauptquelle bildet; für den wenig wissenschaftlichen Charakter des Werks ist der Vergleich der fränkischen Krieger in Gallien mit Spahis und Senegalnegern von heute bezeichnend (S. 13).Die Merowingerzeit hat sonst diesmal wenig Bearbeiter gefunden. R. Buchner <1933/34, 1003> hat die Geschichte der Provence vom 6.--8. Jh. untersucht und festgestellt, daß die ostgotischen Verfassungsformen hier weiterbestanden, vielleicht sogar bis auf Karl Martell; weiter konnte er dartun, daß die Provence als Haupthafengebiet des Frankenreichs ihre Bedeutung erst nach der Einnahme Narbonnes durch die Araber 720 verlor und daß sich auch geistesgeschichtlich im 6. Jh. eine eigene, sentimentale Linie in den wenigen Literaturdenkmälern erweisen läßt. Ein ausführlicher Exkurs über die verschiedenen Patricii der Merowingerzeit folgt. Trotz des spärlichen Materials hat die Arbeit sehr beachtliche Ergebnisse erzielt. Weit weniger hat Beyers <1933/34, 980> Dissertation über König Guntchramm erbracht, die versucht, an Stelle des Bildes vom »guten« König G. Gregors von Tours einen verschlagenen Diplomaten zu setzen. Wenn man »gut« weniger absolut faßt, wird sich vielleicht Gregors Bild mit dem Beyers zur Dekkung bringen lassen. Higonnet untersucht die Altersverhältnisse Dagobert I. und seines Bruders Charibert II. anläßlich ihrer Thronbesteigung; er meint, D. wäre 604/5, Ch. 613/7 geboren. Lehmann <
705> legt dar, wie das literarische Bild Karls zunächst panegyrisch
gesehen wird, solange Karl lebt. Nach seinem Tod formt es Einhard nach Suetons Muster. Das lat. Epos über Karl und
Leo III. möchte L. dem »Hibernicus exul« zuweisen. Notker Balbulus, den L. für den Verfasser der
St. Galler Anekdoten über Karl hält, folgt Einhard. Je später, desto mehr treten kirchliche Züge in
den Vordergrund; eine besondere Rolle spielt der Pseudo-Turpin. Die hoch- und spätmittelalterlichen
S.215 Darsteller des Lebens Karls d. Gr. folgen bald Einhard, bald Turpin, bald mischen sie beide. Turpin < 683> hat eine Neuausgabe erfahren. Viscardi <1933/34, 987> hat die liturgischen Texte für Karls Todestag zusammengestellt und im Anschluß an Bédier deren Beziehung zu Turpin untersucht. Von deutschen Kirchen sind Halberstadt, Hildesheim und Osnabrück vertreten. Turpin hat besonders auf den Halberstädter Text eingewirkt sowie die Texte von Gerona in Spanien beeinflußt. Fawtier <1933/34, 989> hat entgegen Bédier bei der Entstehung des Rolandsliedes das Sagenelement gegenüber der Legende betont; sein Versuch, die älteste französische Fassung des Rolandsliedes bis über 1066 zurückzurücken, ist nicht geglückt; die älteste erhaltene Fassung kann nach 1085, vielleicht erst um 1096--99, entstanden sein und hängt mit Turpin und der Wallfahrt nach Compostella, wie F. dartut, kaum zusammen. Kleinclausz < 706> hat eine große Karl-Biographie geschrieben, die jedoch die deutsche Literatur nach 1914 nur wenig herangezogen hat; Karls Bedeutung als Feldherr und Eroberer, die in den Vordergrund gerückt werden muß, ist unterschätzt, dagegen das Werden des Kaisertums und der Karls-Sage gut geschildert. Lot hat in einer Besprechung <1933/34, 985> Vorzüge und Schwächen des Buches gut gekennzeichnet, Levillain nur den Inhalt referiert. Leclercq <1933/34, 983> hat versucht, an Karl die romanische Herkunft auf Grund zweifelhafter Quellen zu betonen, untersucht das Aufkommen des Namens der Karolinger (zuerst bei Widukind von Corvey), dann die verfassungsrechtlichen Seiten der Monarchie Pippins, des Patriziats, des Kaisertums und des Reichsaufbaus. Ein Artikel über die Monarchie der Merowinger vom gleichen Verfasser schließt sich diesem an.Über die Zeit
Karls hinaus hat Kuhn <1933/34,
998 a> nach Lehmanns Vorbild für Karl Ludwig den Frommen untersucht;
Thegans Schilderung findet K. ziemlich unbefangen, jene des Astronomus apologetisch; die Partei der Söhne vertritt
Agobard von Lyon und Paschasius Radbertus, während Nithard in der Mitte steht. Die Regierung Ludwigs wird lediglich
vom Hof aus gesehen, die grenzpolitischen und Verwaltungsprobleme, die eine sehr wesentliche Ursache für Ludwigs
Versagen sind, sind außerhalb K.s Darstellung gelegen und ihm auch unbekannt geblieben. Die Bedeutung des Urteils
des Papstes Zacharias für Pippins Königsweihe ist der Hauptinhalt des Aufsatzes von Perels
<
704>; freilich ist der Gegensatz von Papsttum und Landeskirche etwas von
der Gegenwart her zugespitzt. Die Ansicht von P., daß Zacharias seine Meinung als Dekretale gab, ist als durchaus
richtig anzusehen. Levillain <1933/34,
990> schildert ausführlich die politischen Vorgänge der Jahre 737
bis 757, kaum von der herrschenden Meinung abweichend. Henggeler <1933/34,
1000> hat die verschiedenen Salbungen und Krönungen Ludwig II.
( 875) untersucht; von Schnürers Theorie über die Konstantinische Schenkung beeinflußt, hat H.
mitunter zuviel in die einzelnen Akte hineingedeutet; richtig ist, daß erst mit der Krönung Karls des Kahlen
875 Salbung und Krönung als ein einziger Weiheakt angesehen werden. Grierson <
720> hält es für unmöglich, daß Hugo, Abt von St.
Bertin, zugleich Kanzler Ludwigs des Frommen und Erzkaplan Karls des Kahlen gewesen wäre. Er versucht <
718> in Bischof Odo I. von Beauvais (um 860/6 Bischof, 881) den
Erzkaplan Karls des Kahlen von 860--79 zu erweisen. Sproemberg <
721> behandelt die Entstehung der Grafschaft Flandern am Ende des 9. Jh.'s,
will die Ansicht, daß Balduin I. eine Markgrafenstelle erhalten hätte, ablehnen und glaubt, daß erst
unter Balduin II. nach dem Tod des Grafen Rudolf 892 durch die Erwerbung von
S.216 Klostergut sich die Macht der Grafen gefestigt hat. Viele Fragen können mit Spr. Methode nicht gelöst werden; ohne eine siedlungsgeschichtliche Untersuchung Flanderns und eine Untersuchung der Herzöge und Markgrafen fürs ganze Karolingerreich werden sich diese Fragen nicht klären lassen.Benner <1933/34, 992> stellt die Urkunden Karls d. Gr. fürs und aus dem Elsaß sowie die Briefe Alkuins nach Murbach zusammen. Sparber < 685> sucht gegen Heuberger den Romanen Quartinus, den letzten romanischen Grundherren Tirols (827--8) zu einem Mischling zwischen Bayern und Breonen zu machen, sicher mit Unrecht. Heuberger ist in seiner Erwiderung bei seiner Auffassung geblieben. Die Bezeichnungen Norici, Noriktal setzen m. E. voraus, daß nach dem Verlust Noricums um 590 dessen Name auf Tirol übertragen wurde, wie früher der Name Dacia von Siebenbürgen auf Gebiete südlich der Donau oder der Name Aemona (Laibach) auf Cittanova in Istrien. Das entspricht byzantinischer Verwaltungspraxis. Krusch <1933/34, 999> hat die Übertragung der Reliquien des hl. Alexander aus Rom nach Niedersachsen durch einen Enkel Widukinds neu herausgegeben und auf diese als älteste Quelle über die sächsische Stammessage verwiesen. Wenn er jedoch glaubt, Widukind von Corvey habe keine anderen Quellen für die Stammessagen gehabt als diese Translatio, irrt er. |
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