II. Kriegsschuldfrage und Kriegsentstehung.Das Feld der politischen Erforschung der Kriegsgeschichte ist seit dem Abschluß der amerikanischen Aktenpublikation der Foreign Relations und durch das schnell fortschreitende Erscheinen der russischen Dokumente in das Zeichen einer ganz neuen Forschungslage getreten. Der Kampf um die Kriegsschuldfrage im älteren Sinne steht dagegen mehr und mehr unter dem Zeichen einer gewissen Ermattung, die doch auch dafür zu sprechen scheint, daß sich ihre Wirkung unter dem Druck einer gewandelten, neue Probleme stellenden Weltlage innerlich allmählich zu erschöpfen beginnt. Von deutscher Seite ist neben einer mehr orientierenden Zusammenfassung von R. Dietrich
<
1242> der Versuch P. Rassows <
1244> zu nennen, der die Genesis der Kriegsschuldthese im Verlauf des
Weltkrieges aus der Wechselwirkung von Kriegsverlauf und propagandistischer Rechtfertigung der eigenen Sache durch die
kämpfenden Mächte historisch zu erklären versucht. Seine Skizze ist vielleicht im Material noch zu
beschränkt; sie interpretiert daher gelegentlich den Redekampf der leitenden Staatsmänner in den einzelnen
Ländern, mit besonderer Liebe die Entwicklung in England von Grey bis Lloyd George, mit etwas mehr als
zulässiger, geradliniger Kühnheit. Der Aufsatz besitzt aber auf jeden Fall das Verdienst, ein bedeutsames
Thema beherzt angepackt,
S.288 die Aufgabe gestellt zu haben, die im Grunde unhistorische Kriegsschuldanklage gegen Deutschland durch die Klärung ihres politisch-historisch bedingten Werdeganges ebenso energisch in geschichtlichem Sinne aufzulösen, wie durch die bisher vorwaltende Methode ihrer sachlichen Widerlegung durch den Vergleich mit einer kritisch erforschten Vorgeschichte des Weltkrieges. -- Von Einzelthemen hat F. Friedensburg < 1246> den amerikanischen Vorwurf widerlegt, daß Deutschland in den letzten Jahren vor 1914 den Kriegsausbruch durch verstärkte Rohstoffeinfuhr systematisch vorbereitet habe. Sein Aufsatz weist schlüssig nach, daß hier im Gegenteil eine verhängnisvolle Lücke unserer Kriegsvorbereitung durch die Vernachlässigung der wirtschaftlichen Kriegsausrüstung Deutschlands vorgelegen hat. -- E. Hemmers gediegene Dissertation über die deutschen Kriegserklärungen von 1914 < 1247> liegt jetzt auch in einer Buchausgabe vor, die ihren Gehalt voll wirksam macht. Mit ihrer ruhigen, Extreme vermeidenden Besonnenheit macht sie die Kette moralischrechtlicher mehr noch als politischer Erwägungen deutlich, die Bethmann Hollweg gegen den Wunsch der Militärs zu der überstürzten formellen Kriegserklärung an Rußland und Frankreich drängten, weil er überzeugt war, ohne diese Deckung das Ultimatum an Belgien nicht verantworten zu können. Sie führt damit auf die ernsteste Schwäche auch der deutschen Kriegsleitung, das Auseinanderklaffen militärischer und politischer Führung im Weltkriege, deren erstes Glied die Hilflosigkeit der Bethmannschen Politik gegenüber dem ihr bekannten, aber niemals ernsthaft vorbereiteten belgischen Durchmarschplan gewesen ist. Er läßt sich durch diese Schwierigkeiten nicht zur gewaltsamen Verurteilung des Schlieffenplanes drängen, die der Einseitigkeit militärischer Prioritätsansprüche nur eine verwandte politische Einseitigkeit ohne Rücksicht auf militärische unvermeidliche Notwendigkeiten entgegenzustellen droht. Aber seine Analyse weist abschließend doch sehr ernsthaft auf die Fragwürdigkeit des Handstreichplanes gegen Lüttich hin, der die für politische Aktion noch verfügbare Zeit, obwohl nach der Polemik der letzten Jahre ohne entsprechende militärische Gegenwerte, unheilvoll weiter verkürzt hat.Die Kriegsschulddiskussion auf
französischer Seite bewegt sich zum Teil immer noch in dem erschöpften Bereich der Bloch-Renouvinthesen <
1245>. Eine kleine Schrift von F. Challaye <
1250> bringt aber doch eine sehr ernsthafte Kritik der
französisch-russischen Bündnispolitik vor 1914, die »wenn nicht Kriegsziele, so doch zum mindesten Ziele
einer Politik« aufgestellt habe, »die nur durch einen Krieg verwirklicht werden konnten«. Wenn diese
Schrift in erster Linie dafür Rußland verantwortlich machen will, so sucht die Aufsehen erregende Arbeit des
als Balkanspezialist angesehenen Journalisten Henri Pozzi (Les Coupables. Paris 1935; vgl. Berl.
Monatsh., Jg. 14, S. 496--506) hierin einen neuen Ausweg für die französische Verteidigung durch ganz
einseitige Belastung des ehemaligen russischen Verbündeten zu finden. Als Hauptstütze dieser These hat er 4
angeblich aus serbischen Archiven stammende Dokumente des Juli 1914 vorgelegt, vor allem die dank der Forschung A.
Wegerers so schmerzlich vermißten Telegramme von Spalajkowitsch aus Petersburg, die beweisen sollen, daß
Rußland gemeinsam mit Serbien die Katastrophe gegen französische Warnungen einseitig und überstürzt
entfesselt hätte. Diese Texte stehen jedoch nach dem Hinweis von A. Bach mit den bisher bekannten Dokumenten, vor
allem dem Bericht Buchanans über die Petersburger Unterredung
S.289 der Ententebotschafter mit Sasonow am 24. Juli, in unausgleichbarem Widerspruch, so daß ihre Authentizität zu verneinen, auch dieser französische Diversionsversuch gescheitert ist. -- Die Publikation sächsischer und württembergischer Berichte des Juli 1914 von angeblich zweifelloser Echtheit in der Revue d'histoire de guerre mondiale < 1251> ist zu belanglos, ihr Informationsmaterial selbst den bayrischen Telegrammen gegenüber zu beschränkt, als daß sie eine Verschiebung der bisherigen Forschungsergebnisse bedeuten könnte. -- Schließlich arbeitet auch der Versuch Renouvins, in einer englischen Sammelpublikation < 1227> die sachliche Tragweite der englisch-französischen Militärbesprechungen vor 1914 zu begrenzen, zu sehr mit dem bekannten Argument des Reservates politischer Handlungsfreiheit von englischer Seite, die man im französischen Generalstabe stets als ernste Belastung empfunden habe, als daß dies etwa wesentlich Neues bedeuten könnte.Zwei größere neutrale Darstellungen widmen sich dem Konflikt zwischen Österreich und Serbien. Der Holländer Verseput < 1252> hat eine stofflich erschöpfende, gründliche Darstellung der Vorgeschichte des österreichischen Ultimatums vom 23. Juli 1914 gegeben, deren Sympathien mehr der nationalen Zukunft des kleinen südslawischen Balkanstaates als seinem Gegner gehören. Er betont sehr stark den Kriegswillen des österreichischen Ultimatums und kritisiert die Carte Blanche, die ihm von deutscher Seite gegeben sei, hält aber doch an einem Kollektivsystem der Verantwortlichkeit am Kriegsausbruch fest. -- Die polnische Arbeit von Władisław Gluck über Sarajewo < 1253> stammt aus der Feder eines ehemals österreichischen Beamten, der über die Verwaltung der Okkupationsprovinzen aus eigener Erfahrung zu berichten vermag. Sie stellt daher die bosnische These der Entstehung des Attentates in den Vordergrund, ohne die Bedeutung der großserbischen Organisationen zu übersehen. Eine direkte Mitschuld der Regierung Pasitsch wird von ihm ebenso wie von Verseput geleugnet. Das Buch ist aber in Einzelheiten für das bosnische Thema doch wertvoll. -- Die große russische Darstellung des Kriegsausbruches von Poletika < 1241>, der bereits früher mit einer eingehenden Studie über Sarajewo hervorgetreten war, ist dem Ref. noch nicht zugänglich gewesen. |
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