II. Reformzeit und 19. Jahrhundert.In seiner
gründlichen detailreichen Studie über »Hardenberg und die preußische Politik 1804--1806«
<
957> schildert K. Griewank die realen und ideellen
Zusammenhänge der schwächlichen und schwankenden Politik Preußens unmittelbar vor der Katastrophe, sowie
die mithandelnden Persönlichkeiten: den im Mittelpunkt stehenden Hardenberg, »der wendig und doch beharrlich
stets auf das einzugehen wußte, womit er unter den jeweiligen Zeitumständen auf den Staat gestaltend
einwirken konnte«, und der in den rasch wechselnden Konstellationen dieser Jahre »alte und neue,
konservative und umwälzende Kräfte der preußischen, deutschen und europäischen Staatsführung,
aufschlußreich in Erscheinung treten« ließ, sodann den König, dessen militärische Berater
und Kabinettsräte, endlich Haugwitz, Metternich u. a. Preußischer auf Arrondierung der »monströs
gebrechlichen« Grenzen gerichteter Machtehrgeiz, gedämpft durch die Grundkonzeption eines »deutschen
Gleichgewichts« zwischen Preußen und Österreich, das wiederum verankert ist in einem europäischen
Gleichgewichtssystem, dem auch das gegen die Legitimitätsideologie siegreiche Frankreich angehören soll -- das
waren die subjektiven politischen Voraussetzungen der Ministerschaft Hardenbergs, die er im Sommer 1804 als Nachfolger
von Haugwitz antrat. Die Belastung des Amtes als Kabinettsminister durch die Zwischenschaltung der Kabinettsräte,
die auch hier auf dem Gebiete der Außenpolitik zu dem Kampf um die ministerielle Selbständigkeit führte,
der felsenfeste, auf dem Gefühl persönlicher, politischer und militärischer Schwäche beruhende
Neutralitäts- und Isolierungswille des Königs und endlich die auch von der Idee des europäischen
Gleichgewichts, aber gegen das übermächtige Frankreich ausgehende, von Rußland
geführte
S.429 Bewegung zu einer neuen Koalition gegen Napoleon -- das waren im Innern und im Äußeren die objektiven Voraussetzungen der Aufgaben, die Hardenbergs harrten. Sein Wille zu selbständiger gewinnreicher Politik Preußens durch Gegeneinanderausspielen der europäischen Gegensätze scheitert immer wieder an dem Neutralitätssystem des Königs, zu dessen ausführendem Organ er zeitweise herabzusinken droht, seine immer wieder auflebende ausgreifende Initiative wird zum defensiven Sichwehren gegen französischen und russischen Druck und endet schließlich in der Kompromißpolitik des Potsdamer Vertrages vom 3. Nov. 1805 und dem verspäteten Anschluß Preußens an die Koalition. -- Eine Aufgabe von Rang, die Geschichte der Durchführung des Tilsiter Friedens zu schreiben < 962>, hat sich H. Haußherr gestellt und mit großem Erfolg gelöst. Seine Arbeit gehört zu denjenigen Leistungen, die über den Rahmen ihres Einzelthemas hinaus einen allgemeinen Wert behaupten, da sie aus jenem totalen Gesichtspunkt geschrieben ist, der jeden Moment des Geschehens in seiner allgemeinen außen-, innen- und finanzpolitischen Bedingtheit und in seiner besonderen Abhängigkeit von der Persönlichkeit der jeweils Handelnden erscheinen läßt. Die auffallende Tatsache, daß sein Thema erst in unsern Tagen zur Darstellung gelangt ist, erklärt H. mit Recht daraus, daß der Sinn für die »härteren ungeistigen Wirklichkeiten des geschichtlichen Lebens«, für die Bedeutung der Finanzen als Nebenmittel der Machtpolitik, erst den Nachkriegsdeutschen aus der bitteren Erfahrung der Tributpolitik von Versailles und dem Erlebnis des Schwindens der persönlichen Sekurität erwachsen ist. Aber nicht nur historisch, auch politisch ist das Buch zu einer Notwendigkeit geworden: es ist die schlagende Antwort auf Lesages Buch »Napoléon I., créancier de la Prusse«, das die französische Nachkriegspolitik der Sanktionen historisch rechtfertigen wollte. Darüber hinaus will der Verf. sein Buch »aus dem Gesamtleben der Nation« sprechen und wirken lassen, indem er zeigt, wie die Wiederholung der Geschehnisse, des preußischen Schicksals von Tilsit in dem größeren deutschen von Versailles, die bleibenden Wesenszüge der beteiligten Völker erhellt: »die Spannung zwischen dem Zusammenbruch und zwischen dem Aufschwung zu Kampf und Sieg« hier, das »ausgeklügelte Paragraphenwerk«, die »stets steigenden Forderungen der Durchführung«, das »Zusammenwirken politischer und finanzieller Mittel«, die »Brutalität, die immer noch einen Schein des Rechtes in den Verträgen findet«, dort.Drei große Komplexe des Geschehens sind es, die H. in ihrer Verzahnung unter sich und mit den
allgemeinen Zeitproblemen zur Anschauung bringt: der Kampf der Friedensvollziehungs-Kommission unter Sack um die
Festsetzung der Kontributionssumme und der Zahlungsmodalitäten, das innerpreußische Ringen in Memel und
Königsberg um das Aufbringungsproblem und die Weltpolitik Napoleons, für die der Friede von Tilsit nur ein
Teilproblem seiner Auseinandersetzung mit Rußland und England ist. Durch die Verkennung dieses letzteren Moments
hat die preußische Taktik Sacks und dann auch Steins ihr Fiasko erlitten: man sieht in dem Unterhändler Daru
den Blutsauger, der gegen die Intentionen Napoleons handelt, während es tatsächlich genau umgekehrt ist: Daru
will zu einem für Preußen tragbaren Abkommen gelangen, und er wäre mit dem Freiherrn vom Stein, der
Erfüllungspolitik treibt, um den Staat für seine Reformen wieder in die Hand zu bekommen, auch zu einer
solchen Einigung gekommen, wenn nicht Napoleon, auf den man durch die Sendung
S.430 Knobelsdorffs und dann des Prinzen Wilhelm vergebens direkt einzuwirken versucht, jedes Abkommen durch neue, bewußt unerfüllbare Forderungen unmöglich gemacht hätte. Denn Napoleon muß Preußen und die Weichsellinie in seiner Hand behalten, solange seine Auseinandersetzung mit Rußland in der orientalischen Frage -- er gebraucht die Türkei gegen England -- in der Schwebe ist. Ebenso klar und einleuchtend wie diese Zusammenhänge zwischen Außenpolitik und Kontributionen zeigt Verf. die außerordentlich interessanten Zusammenhänge zwischen dem Aufbringungsproblem und den preußischen Staatsreformen auf. So ist die Agrarreform, d. h. die Eingliederung der Landwirtschaft in das kapitalistische System vorwärtsgetrieben worden durch die Notwendigkeit, für sie im Interesse der Aufbringung, die sie hauptsächlich zu tragen hatte, den Kapitalmarkt zu erschließen: »Wenn die Lehren des frühen Liberalismus überhaupt das alte Preußen umformen konnten, so liegt das doch nicht bloß an dem Geist der Zeit, sondern auch an den Notwendigkeiten der Kontributionsaufbringung« (S. 59). Hierhin gehören ferner die Entwicklung der Einkommensteuerpläne zur Abdeckung der geplanten Zwangsanleihe, der Plan zur Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit als Folge der französischen Forderungen auf Abtretung von Domänen, die grundsätzliche Erörterung des Verkaufes sämtlicher Domänen aus allgemeinen staatswirtschaftlichen Gründen, die Schaffung von Pfandbriefen mit Garantie des staatlichen und privaten Grundbesitzes, Steins Gedanke der Heranziehung von Vertretern aus der Bevölkerung zur Prüfung der Steuererklärungen usw., alles Dinge, die das Gesetz der inneren Umwandlung der Staaten durch außenpolitischen Druck aufs neue bestätigen. Erst die Rückschläge in Spanien zwingen Napoleon, Preußen zu räumen und als Voraussetzung dafür ein endgültiges Tributabkommen zu treffen, das Prinz Wilhelm am 8. Sept. 1808 in Paris unterzeichnet. Auch die Zahlen dieses Abkommens sind so unaufbringlich, daß die zur Sicherung der französischen Forderungen zurückgelassenen 10_000 Mann in den Oderfestungen praktisch eine dauernde, zur Knebelung Preußens ausreichende Restbesatzung bilden. Der Abschluß erfolgte nach dem monatelangen Ringen Steins mit Daru um ein vernünftiges Abkommen ohne seine Mitwirkung und in einem Augenblick, wo die Aussichtslosigkeit seiner Erfüllungspolitik ihn »zu neuen größeren Plänen unmittelbarer Befreiung«, zum Volksaufstand, vorstoßen ließ. Aber schon war der Brief Steins, in dem er zu Wittgenstein über diesen Volksaufstand sprach, in den Händen Napoleons, und so enthielt auch der Septembervertrag eine Klausel, die Steins Entlassung forderte. Stein mußte gehen, und mit dem Zahlungsabkommen und den ersten monatlichen Millionenraten begann die wirkliche Erfüllung. -- Die große Stein-Publikation von E. Botzenhart hat, abgesehen von dem fehlenden 2. Band, auch mit dem jetzt vorliegenden, eigentlich als Schlußband gedachten 6. Bande < 984>, noch immer nicht ihren Abschluß gefunden. Es war dem Herausgeber nicht möglich, die reiche Fülle des Schriftwechsels des späten Stein in einem Bande zu bergen, so daß ein letzter Rest, die Jahre 1829--1831 umfassend, in dem Nachtrags- und Registerband untergebracht werden muß. Über Anlage und Durchführung der Publikation braucht hier nach den Bemerkungen der früheren Jahrgänge nur gesagt zu werden, daß die Zahl der an Stein gerichteten Briefe in diesem Bande stark zurückgegangen ist: den Briefpartnern Steins kommt in diesen späteren Jahren nicht mehr die Bedeutung zu wie in der Zeit der Reform und der Erhebung. Nur Humboldt,S.431 Gneisenau, Schön und Vincke sind noch stärker vertreten, während Briefe von neuen Korrespondenten, wie Gagern und Spiegel, nur in ganz geringer charakteristischer Auswahl aufgenommen wurden. Neuerschlossen hat der Herausgeber den Briefwechsel mit Karoline von Humboldt, wobei sich in Tegel noch unbekannte Briefe Steins an Wilhelm von Humboldt fanden. Das Hauptkontingent des Neuen stellen in dem vorliegenden Bande wieder die Briefe an Frau von Reden, eine Quelle von tiefem politischen und menschlichen Gehalt, die, seit 1812 fast versiegt, seit 1818 wieder reichlich zu fließen beginnt. Was den Inhalt des Bandes angeht, so finden wir Stein beschäftigt mit den wichtigsten Problemen der deutschen und preußischen politischen Entwicklung und in lebhafter innerer Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen seiner Zeit, mit Reaktion und Liberalismus, begriffen. An konkreten Verhältnissen und Problemen, etwa der Neuordnung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse in den westlichen Provinzen Preußens, der Frage der Ständischen Selbstverwaltung und der Revision der Städteordnung, den Zollvereinskämpfen entwickelt er seine Staatsideen, die das in der Reformzeit von ihm Erstrebte und Gewollte vielfach erläutern und erhellen. Daneben stehen die großen weltpolitischen Ereignisse und Zusammenhänge, wie der Freiheitskampf der Griechen oder das Aufkommen selbständiger Staaten in Südamerika, und endlich die historischen und künstlerischen Interessen: »ein breiter, tiefer und majestätischer Strom großer Gedanken«. -- Die von der Preußischen Akademie der Wissenschaften seit ihrer Zweihundertjahrfeier in Angriff genommene Herausgabe der Gesammelten Schriften Wilhelms von Humboldt geht zu dessen hundertstem Todestage in den Grundzügen des ursprünglichen Planes, der nach den eigentlichen Werken, den Politischen Denkschriften und den Tagebüchern als vierten Teil den Briefwechsel vorsah, ihrer Vollendung entgegen. Allerdings erlaubten es die Mittel nicht mehr, die gesamte Korrespondenz, ja, nicht einmal alle eigenen Briefe Humboldts zu bringen, sondern unter Verzicht auf die literarisch-wissenschaftlichen Briefe wurde dieser letzte Teil der Gesammelten Schriften auf die »Politischen Briefe« < 989> beschränkt, deren ersten Band Wilhelm Richter nunmehr vorlegt. Der Herausgeber vereinigt in seiner Ausgabe »alle erreichbaren Schreiben des preußischen Gesandten und Staatsmannes ... soweit sie im Gegensatz zu den amtlichen Berichten und Denkschriften, Gesuchen und Verfügungen den Charakter des persönlichen Briefes tragen«, ferner Humboldts offizielle, seine eigene Wirksamkeit betreffenden Eingaben an den König und einige an Hardenberg persönlich gerichtete Depeschen. Unwichtige und weniger wichtige Briefe, die in zuverlässigen und leicht zugänglichen Ausgaben bereits gedruckt vorliegen, sind nur in Regestform wiedergegeben. Die mit dem Jahre 1802, mit der Übernahme des Postens des Residenten in Rom einsetzende Ausgabe umfaßt also nur die politischen Briefe Humboldts aus der Zeit seiner amtlichen Tätigkeit; die z. T. schon an andern Stellen veröffentlichten früheren Briefe politischen Inhalts sind nicht berücksichtigt worden. Die drei in dem vorliegenden Bande umfaßten Abschnitte der dienstlichen Laufbahn Humboldts vom Antritt seines Postens in Rom bis zum Prager Kongreß (August 1813) haben einen sehr verschieden starken Niederschlag an politischen Briefen hinterlassen. Während der sechsjährige Aufenthalt in Rom von 1802 bis 1808 nur mit 83 Nummern vertreten ist, haben die anderthalb Jahre der Leitung der Sektion für Kultus und Unterricht 1809-1810 169 Nummern und dieS.432 drei Jahre seiner Gesandtenzeit in Wien 1810--1813 wiederum nur 141 Nummern hervorgebracht: in der ersten Epoche ist er weniger Politiker als Romfahrer, der »die schlimmen Tage zu Hause, die schönen in Gallerien und unter den Ruinen« verbringt; außer einem Vorschlag an Haugwitz über die in den 1803 säkularisierten Ländern vorzunehmenden Veränderungen der Kirchenverfassung, außer einigen technologischen und kommerziellen Auskünften für Struensee und Nachrichten über die Ehedispensationsangelegenheit des Erbprinzen Georg von Mecklenburg ist der Inhalt dieser Briefe kaum politisch zu nennen. Interessant der an den Letztgenannten gerichtete Brief nach der Katastrophe von Jena: nach einigen Klagen darüber, »in solchem Augenblick fern und müßig und unnütz« zu sein, die ausführliche Erörterung über die Verbesserung eines Verses aus seinem Gedicht über Rom ... Um so gefüllter mit politischem und ressortmäßigem Inhalt sind die Briefe des Organisators des preußischen Unterrichtswesens; vor allem die Hauptreihen, die Briefe an Nicolovius, Uhden, Vincke, Wolf sind »vertrauliche Unterhaltungen aus dem gemeinschaftlichen Geschäftskreise« über Gymnasien, Universitäten, inbesondere Berlin, Berufungen (Savigny, Reil, Boeckh, Steffens u. a.), Zensurfragen, die Pestalozzische Methode, die Akademien der Wissenschaften und Künste usw. Von besonderer Wichtigkeit sind die Briefe an die Königin Luise und Frau von Berg über die Gründe seines Rücktritts von der Unterrichtssektion. In dem letzten Abschnitt der Veröffentlichung, der Wiener Gesandtenzeit, tritt der politische Inhalt der Briefe, abgesehen von den an Hardenberg persönlich gerichteten Depeschen, die ja eigentlich keine persönlichen Briefe sind, wieder stark zurück. Durchaus im Vordergrund stehen die Briefe an die Mitarbeiter der vorangegangenen Epoche, die so mit ihren mannigfachen wissenschaftlichen Gegenständen auch in die Wiener Zeit hineinreicht. Erst mit dem März 1813 hebt sich die Woge wieder: hier finden wir die Empfehlung Theodor Körners an Gneisenau, das große Schreiben an Scharnhorst über dessen Sendung nach Prag, den schönen Brief an Gneisenau über die vorläufige Beisetzung Scharnhorsts in Prag, der die Worte über den Krieg enthält, »der Preußens Ehre auf eine Weise gegründet hat, welche unser Kriegsheer Deutschland und Europa auf ewig theuer und achtungswerth machen wird«. -- Einen für die Entwicklung der inneren Welt Wilhelm von Humboldts sehr erheblichen, aber von der bisherigen Forschung, sei es bewußt oder unbewußt, nicht genügend gewürdigten Faktor, die Berührung mit der jüdischen Welt, will Wilhelm Grau in seiner wahren Bedeutung herausstellen < 2431>. In methodisch wohlabgewogenem, stufenweisem Aufbau geht der Verf. aus von einer durch Humboldts französischen Bluteinschlag -- als Spaltung des völkischen Instinktes -- bewirkten »Disposition für das Jüdische«, die durch seine geistig aus dem Aufklärungskreise Moses Mendelssohns stammenden Lehrer und Erzieher verstärkt wurde; es folgt eine Übersicht über die Begegnungen Humboldts mit jüdischen Menschen und die einzelnen Phasen dieser Beziehungen, von denen das geistig-sinnliche Verhältnis zu Henriette Herz als das schwerwiegendste und folgenreichste neben der Freundschaft mit Israel Stieglitz erscheint. Das geistige Kernstück des Buches bilden die beiden folgenden Abschnitte, die Analyse des »Einflusses des Jüdischen« auf Wilhelm von Humboldt und seine »grundsätzliche Auffassung des Judenproblems«. Optimistischer Rationalismus, intellektuelles Epikuräertum, Ablehnung christlich-metaphysischer Grundanschauungen -- Auferstehung, TrinitätS.433 --, Untergrabung des Staatsbewußtseins und des Glaubens an den Staat -- so daß Grau die Entstehung der »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen« »primär aus der Vorstellungswelt des jüdischen Raumes« erklärt --, damit zusammenhängend die innere Lösung von der Heimat, die Beschränkung des deutschen Nationalcharakters auf eine Mittlerrolle zwischen fremden Kulturen usw., ein Komplex innerlich zusammenhängender Anschauungen der intellektuellen Dekadenz, deren hauptsächlichste Vermittlerin eben Henriette Herz ist und deren Einfluß durch die Verbindung mit Karoline von Dacheröden und durch das wachsende Verhältnis zum Griechentum nicht überwunden, aber eingedämmt wird. Humboldts grundsätzliche Auffassung des Judenproblems ist durch seinen Humanismus bestimmt: da er in dem Juden nichts als den Menschen sieht, glaubt er ihn nur von den »Merkmalen« seiner geschichtlichen und zeitlichen Lage befreien zu brauchen, um ihn zum Aufgehen in seiner Umwelt zu bringen. Er wird so zum Vertreter der radikalen Emanzipation gegenüber der von der preußischen Bürokratie vertretenen sog. pädagogischen Emanzipation, die die Gleichberechtigung nur einzelner Juden je nach ihrer moralischen Entwicklung zugestehen will. Auf diesem Unterbau wird endlich die Arbeit Graus gekrönt durch die Darstellung von Humboldts Judenpolitik: folgerichtig enthalten die Statuten für die Berliner Universität keine Behinderung für Juden als Dozenten, folgerichtig vertritt Humboldts Gutachten zur Judenfrage von 1809 die Forderung der totalen Gleichberechtigung und wird dadurch eine »vorwärtstreibende Kraft« am Preußischen Judenedikt von 1812, und folgerichtig kämpft Humboldt endlich auf dem Wiener Kongreß für die Verankerung der Gleichberechtigung der Juden in der deutschen Bundesverfassung. So ist Humboldt »die wichtigste Gestalt in der Reihe jener deutschen Staatsmänner« geworden, »die den Eintritt der Juden in unser Staats- und Kulturleben ins Werk gesetzt haben«. Als Motiv seiner Judenpolitik aber hat Humboldt im Jahre 1814 einmal seiner Gattin gestanden: »Es sind die letzten Funken meiner Pietät gegen die Herz.«Der große
Jubiläumsaufsatz E. Sprangers über Wilhelm von Humboldt <
2430> zeigt, wie das Bild Humboldts einseitig durch die
»Zufälligkeiten des Zutagekommens der Quellen« bestimmt worden ist: politisch wurde er bis heute auf
den Liberalismus festgelegt, »den der Fünfundzwanzigjährige gehabt, der Sechsundzwanzigjährige aber
schon zu überwinden begonnen hatte«, dadurch, daß sein zuerst 1851 vollständig
veröffentlichtes Jugendwerk von 1792: »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu
bestimmen« von der herrschenden liberalen Bewegung (John Stuart Mill u. a.) verwertet wurde und bei Rudolf Haym
bei der Spärlichkeit anderer Quellen geradezu als »das System der Humboldtschen Individualität«
erschien. Die Historiker haben von dem Bilde des werdenden Humboldt das seiner Reife überdecken lassen. Verf. weist
demgegenüber auf den in Humboldts Lehrjahren allmählich wachsenden Sinn für das Leben und die
Individualität der Nation hin, aus dem allein sich seine spätere Hinwendung zu sprachphilosophischen
Untersuchungen erklärt. Die Deutung des Humboldtschen Individualismus als »eine verweltlichte Form
religiöser Daseinsfundierung«, die in der Welt, doch über der Welt
stehen will und doch nicht unfähig ist zum tätigen Leben, da sie als unzerstörbare Entelechie »mit
unbeirrbarer Klarheit in die Dinge hineinwirken kann«, diese Deutung soll auch das Verständnis der
Humboldtschen Idee der
S.434 unzerstörbaren Individualität der Nation erschließen, für deren Physiognomik keine Äußerung vielsagender als die Sprache ist. »In allem Äußeren und Inneren der Welt lebt Eine verborgene Kraft, die sich in organischen, d. h. ganzheitlichen Gebilden offenbart.« Dieser Entwicklungsweg Wilhelm von Humboldts ist zugleich sein Weg zu immer bewußterem Deutschtum gewesen.Sucht Spranger so das Egozentrische und Widerspruchsvolle des Humboldtschen Wesens in einer höheren Einheit aufzulösen, so spielt dies bei der Deutung des Verhältnisses Humboldts zum preußischen Staatsgedanken durch E. Schaumkell < 2430> eine um so größere Rolle. Auch Sch. sieht in den »Ideen« von 1792 nicht ohne weiteres die Grundlage für die Beurteilung der politischen Anschauungen des ganzen Humboldt; er wirft die Frage auf, ob die Gedanken von 1792 in ihm lebendig geblieben sind oder ob er unter dem Einfluß späterer Erfahrungen und Erlebnisse den Glauben an den Staat und insbesondere an den preußischen Staat gefunden hat. Zur Beantwortung dieser Frage verfolgt Sch. das Verhältnis Humboldts zum preußischen Staate durch alle Etappen der Zeitgeschichte, um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß Humboldt aus seinem weltbürgerlichen, kulturstaatlichen Denken heraus, dem der Machtstaat fremd war, weder die preußische Hegemonie in Deutschland noch die innere Struktur des preußischen Staates verstanden habe. Nach Sch. dürfte demnach der liberale Grundgehalt der »Ideen« von 1792 von Humboldt nicht überwunden worden sein. |
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