III. Darstellungen zum Gesamtproblem.Ein Appell an die deutsche Geisteswissenschaft sind die Ausführungen von H. Lüpke »Die Ausrichtung der deutschen Geschichtswissenschaft nach Osten« auf der 1. Geschichtstagung des NS.-Lehrerbundes 1935 < 244> und von E. Wiskemann »Der deutsche Osten als Aufgabe« in »Z. für die gesamte Staatswissenschaft« (Bd. 95, 1935, H. 3, S. 365 ff.). Auf
dem Warschauer Historikerkongreß unternahm der tschechische Forscher Bidlo den erneuten Versuch,
den Gesamtablauf der Geschichte des Slawentums als Einheit zu fassen. Er setzt ihn mit der Geschichte Osteuropas gleich
und umreißt dieses Osteuropa als das Gebiet, dem Ostrom, Byzanz und griechische Kirche ein einheitliches
kulturelles Gepräge gaben. Zu dieser These nimmt von deutscher Seite Josef Pfitzner in der
»Historischen Zeitschrift« <1933/34,
403> ausführlich und kritisch Stellung. In einer umfassenden
Literaturübersicht zeigt Pfitzner, wie die Frage einer einheitlichen Geschichte der slawischen Welt und die
Definition des Begriffes Osteuropa seit über 100 Jahren immer wieder die Wisssenschaft beschäftigt haben. Den
Anhängern der slawischen Einheit, die ihre Beweisführung auf Sprache, räumliche Gegebenheiten und
Kulturentwicklung stützen, steht eine Reihe namhafter, auch slawischer Forscher gegenüber, die die Einheit der
geschichtlichen Entwicklung des Slawentums und Osteuropas als nicht den historischen Tatsachen entsprechend ablehnen.
Bei der Festlegung der Grenzen Osteuropas herrscht gerade bei der Westgrenze keine Übereinstimmung. Jedenfalls
dringt heute mehr und mehr die Ansicht durch, daß Osteuropa größer ist als der nur von Slawen bewohnte
Boden. Die Einheit der Geschichte des Slawentums verneint Pfitzner, doch »stellt Osteuropa in Hinblick auf die
abendländische Kultur eine Einheit dar«. Die Haupttriebkräfte der Geschichte dieses Raumes, dessen
Westgrenze er auf die Formel: Elbe-Saale-Böhmerwald-Traun-Adriaostufer bringt, sind nach Pfitzner: »1. Die
Einflüsse der antik-abendländischen Kultur. 2. Die autogene Entwicklung der menschlichen Gemeinschaftsformen
Osteuropas.« Der Formulierung Pfitzners stimmt unter Ablehnung der Konstruktion Bidlos Hoetzsch in
dem einzigen bisher unveröffentlichten Aufsatz der schon genannten Sammlung <1933/34,
257> zu. Das Kriterium der »abendländischen Kultur«
erscheint ihm allerdings nicht als genügend für eine Einheit. Doch erkennt er das »abendländische
Kulturgefälle« von Westen nach Osten an und möchte für die geschichtliche Forschung und Darstellung
Begriff und Umfang von Osteuropa
S.613 folgendermaßen festlegen: »Das kontinentale Gebiet von der Elbe bis zum Ural, im Süden und Südosten durch die Linie: Erzgebirge, Sudeten, Karpathen und von da bis zur Donaumündung vom europäischen Südosten abgehoben, ein Gebiet, das zunächst bis zum Dnjepr und darüber hinaus im Frühmittelalter vornehmlich slawische Welt ist, in das tief und umgestaltend eingreift die wieder nach Osten zurückstoßende deutsche Expansion und Staatenbildung und auf das einwirkt der osmanisch-islamische Druck von Süden her und die mongolisch-tartarische Invasion von Asien her.« In einem 1934 in Berlin gehaltenen Vortrage »Der Begriff der osteuropäischen Geschichte« <1933/34, 402> nimmt als Vertreter der polnischen Historiker Professor Halecki-Warschau zu dieser Frage Stellung. Auch er sieht die Unmöglichkeit einer gesamtslawischen Geschichte, also der ethnographischen Einheit als Definition für Osteuropa ein und bekennt sich zur Begriffsbestimmung Pfitzners. Glaubt aber Pfitzner an die Möglichkeit einer einheitlichen Erfassung der osteuropäischen Geschichte, so hält Halecki diese Aufgabe wegen der inneren Gegensätze und klaren Unterschiede innerhalb des umrissenen Raumes für unlösbar. Er kommt zu der praktischen Feststellung, »daß eigentlich Osteuropa nichts anderes ist als der Teil Europas, der bislang in der Gesamtdarstellung europäischer Geschichte zu kurz gekommen ist«.Zur Warschauer Historikertagung unternahm Halecki in einem Werke »La Pologne de 963 à 1914. Essai de synthese historique« (Paris 1932, 348 S. 1 K. Rez. v. E. Maschke, H. Z. 152, S. 153 f., K. Völker, Jbb. Kult. u. Gesch. Slaw. N. F. 9, S. 610 ff.) schon den großangelegten Versuch, den Gesamtablauf der Geschichte Polens in den Zusammenhang des christlichen Abendlandes einzuordnen. Es ist natürlich, daß eine Reihe von geschichtlichen Vorgängen im deutschpolnischen Grenzraum auf deutscher wie polnischer Seite eine verschiedene Deutung erfahren haben. Eine eigenartige Unterstützung wird dem polnischen Standpunkt aber durch eine in Paris erscheinende Schriftenreihe »Problèmes Politiques de la Pologne contemporaine« zuteil, in der u. a. auch so international anerkannte französische Historiker wie Emile Bourgeois und George Pagès das Wort ergreifen. Hans Rothfels kann in einer kritischen Besprechung »Französischer Nationalismus in der Ostgeschichtschreibung« (der erste Teil erschien in der H. Z. Bd. 148, H. 2. S. 294--300, das Ganze in der schon zitierten Aufsatzsammlung S. 195--205) den Beiträgen der beiden Bände »La Pologne et la Baltique« und »La Prusse Orientale« eine Fülle grober Irrtümer und Fehlurteile nachweisen. Es ist sehr fraglich, ob derartige Veröffentlichungen, deren Vorworte übrigens von Polen verfaßt sind, der zu erhoffenden direkten Aussprache zwischen polnischer und deutscher Wissenschaft einen großen Dienst erweisen. In einem weiteren Aufsatze der genannten Sammlung »Das Problem des Nationalismus im Osten«, der auch den
Schlußabschnitt des Werkes »Deutschland und Polen« bildet, schildert Rothfels das
jahrhundertelange Zusammenwohnen der Nationalitäten im Vorland der östlichen deutschen Reichsgrenze. Die in
Versailles geschaffenen Staatsgrenzen sind dieser völkischen Gemengelage keineswegs gerecht geworden. (Hierzu vgl.
auch die Darlegungen von Rothfels »Der Vertrag von Versailles und der deutsche Osten« in »Berliner
Monatshefte«, 12. Jg., 1934, Nr. 1, S. 3--24.) Ebenso können nationalstaatliche
S.614 Bestrebungen in den neu entstandenen Staaten Ostmitteleuropas nur zur Unterdrückung der zahlreichen völkischen Minderheiten führen. Als Vorbild für einen allgemeinen Ausgleich der völkischen und staatlichen Lebensnotwendigkeiten darf das estländische Kulturautonomiegesetz von 1925 angesprochen werden. -- Wie eine Erläuterung dieser Grundgedanken erscheinen die Einzelheiten, die Franz Doubek in einem Aufsatz »Zum Nationalitäten-Problem im Raume der deutsch-polnischen Nachbarschaft« (Deutsche Monatshefte in Polen, Jg. 2, 1935/36, H. 4, S. 144--157) mit Hilfe zahlreicher Karten und Tabellen zu einem anschaulichen Gesamtbild zusammenfaßt. Zwischen die beiden geschlossenen Volkskörper »lagern sich an einer Reihe von Stellen Gebiete, in denen das nationale Bekenntnis und die ethnische Zugehörigkeit bei einer Mehrheit oder Minderheit der Glieder des dieses Gebiet bewohnenden Volkstums divergieren. -- In dieser Labilität, so verschiedenartig sie im einzelnen hinsichtlich ihrer Ursachen und Auswirkungen auch sein mag, liegt mit das große Zentralproblem aller Nationalitätenfragen im Raume der deutsch-polnischen Nachbarschaft.«In einem Vortrage »Der deutsch-slawische Grenzraum als Zone politischhistorischer
Ideenbildung« (Breslau: Trewendt und Granier in Komm. 1935, 15. S.) setzt sich Ernst Birke mit den
Begriffen der deutschen Ostpublizistik der letzten Jahre, insbesondere mit der Ideologie des Kreises um die heute
eingegangene Zeitschrift »Der nahe Osten« auseinander. Birke kritisiert die Verschwommenheit der
historischen und politischen Vorstellungen einer Reihe aus diesem Kreise hervorgegangener Veröffentlichungen (z. B.
des Buches »Polen, Preußen und Deutschland« von Friedr. Schinkel, gegen das an dieser Stelle ebenfalls
starke Bedenken geäußert wurden). Eine These wie »föderalistische Aufgliederung des nahen
Ostens« hat bisher z. B. auf polnischer wie auf tschechischer Seite keine Gegenliebe gefunden. Dort beharrt man
meist auf einem extrem nationalistischen Standpunkt, wie ihn z. B. noch 1934 der Krakauer Dozent J.
Feldman in einer Schrift »Antagonizm polsko-niemieckie w dziejach« (Der deutsch-polnische
Gegensatz in der Geschichte), Toruń, Nakładem Institutu Bałtyckiego 1934, 58 S., vertritt, indem er
in den Deutschen nur die Unterdrücker sieht und die unbestreitbaren kulturellen Leistungen des Deutschtums auf
polnischem Boden stillschweigend übergeht. Neben immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen im politischen
Verhältnis steht nun einmal der friedliche kulturelle Austausch als zweite Komponente. Auf diese geschichtliche
Tatsache weist auch H. Aubin in seinem Beitrage (zu »Deutschland und Polen«) »Die
historisch-geographischen Grundlagen der deutsch-polnischen Beziehungen« hin. Der deutsch-polnischen Staatsgrenze
hat immer jede »geographische Verankerung« gefehlt. Doch haben gerade die Prinzipien der Raumgestaltung
durch den Staat zum politischen Gegensatz der beiden Völker geführt: »Das vom Meere ausgehende, die
Küstenländer umfassende und das vom Festland ausgehende, die eigene Küste mit
einschließende.« -- Die Anwendung eines neuen Hilfsmittels für die historische Forschung in diesen
Gebieten erläutert Alfred Lattermann in einem auf der 50-Jahrfeier der Historischen Gesellschaft
für Posen gehaltenen Vortrage »Die Ortsnamen im deutsch-polnischen Grenzraum als Geschichtsquelle« <
499> an einigen praktischen Beispielen. Er knüpft dabei an die von
Ernst Schwarz in den Sudetenländern mit Erfolg angewandte Methode an, bei spärlicher urkundlicher
Überlieferung den Zeitpunkt
S.615 der Besiedlung aus dem Lautstand und den Wortstämmen der alten Ortsnamenformen zu erschließen. Lattermann zeigt die Auswertungsmöglichkeiten der Lautveränderungen und des Lautersatzes im Polnischen und im Deutschen an Ortsnamen aus Posen, Nordschlesien und Ostbrandenburg, um dann ihre Anwendbarkeit für ein kleines geschlossenes deutsch-polnisches Grenzgebiet, das Fraustädter Ländchen, zu prüfen. Die sprachlichen Deutungen Lattermanns sind allerdings nicht unwidersprochen geblieben. -- Auf polnischer Seite sind 1934/35 die ersten beiden Lieferungen des von dem Posener Siedlungsgeographen St. Kozierowski bearbeiteten »Atlas nazw geograficznych Słowiańszczyzny Zachodniej« (»Atlas der geographischen Namen der westslawischen Gebiete«) erschienen. Ihre Karten umfassen Pommern mit der Insel Rügen. Das für das Gesamtwerk vom Verf. durchgearbeitete Namenmaterial erstreckt sich bis zur äußersten Siedlungsgrenze der Westslawen, etwa der Linie Hamburg-Bamberg. Auf den bisher erschienenen Blättern erscheinen die Namen grundsätzlich in polnischer Form. Diese Maßnahme muß angesichts der Tatsache, daß die westslawischen Sprachen einen vom Polnischen durchaus verschiedenen Lautstand gehabt haben, für die wissenschaftliche Objektivität des Werkes äußerst bedenklich stimmen. (Vgl. die kritischen Besprechungen durch F. Lorentz in Balt. Stud. N. F. 37, 1935, S. 299--302 und Zschr. f. slav. Philol. Bd. 12, 1935, S. 459 bis 468.)Für Schulungszwecke gibt es heute eine große Zahl allgemeinverständlicher und
handlicher kleiner Darstellungen aus allen Gebieten deutscher Geschichte. Von den in der Berichtszeit herausgekommenen
haben mehrere auch den deutschen Osten und seine Grenzfragen zum Gegenstand. Ganz aus dem volksdeutschen Blickwinkel
sieht Hans Schoeneich (»Tausend Jahre deutscher Kampf im Osten«. Verlag Ph. Reclam jun.
1935. -- 79 S.) die Entwicklung, deren übersichtliche Darstellung er mit scharfen Worten der Abwehr aller Angriffe
auf den Besitzstand des deutschen Volkes verbindet. Aus der politischen Gegenwartslage des »Volk ohne Raum«
führt Friedrich Hiller (»Deutscher Kampf um Lebensraum«. Armanenverlag Leipzig, 1933.
54 S.) zu dem elementaren Ereignis der deutschen ma.'lichen Ostkolonisation, wobei gute Karten und Bilder die
Ausführungen wirksam unterstreichen. Eine Reihe von 63 ausgezeichnet ausgewählten und wiedergegebenen Bildern,
zu denen Werner Emmerich einen kurzen Textteil geliefert hat (46 S.), läßt das vom
Bibliographischen Institut Leipzig, 1935, herausgegebene Bändchen »Der deutsche Osten« als besonders
gelungen erscheinen. Von ähnlicher Anschaulichkeit ist das Kartenwerk »Fragen der deutschen Ostgrenze«
von Karl Werner (Verlag W. G. Korn Breslau, 1933. -- 32 + VIII S.). Rez. v. E. Randt in Zschr. d. Ver.
f. Gesch. Schles. Bd. 69 (1935), S. 357. -- Die neuen Richtlinien des nationalsozialistischen Staates haben den
historischen und politischen Fragen der deutschen Ostgrenze auch im Schulunterricht einen stärkeren Platz als
bisher eingeräumt. -- Von W. Czajka u. a. herausgegeben erschien ein Handbuch für den Lehrer
»Der deutsche Ostraum im Unterricht« (Heinrich Handels Verlag Breslau, 1935. -- 166 S.), das in
vereinfachter Form die großen Linien der Entwicklung deutlich macht. Eine wesentlich stärkere Leistung ist
die Schrift des bisherigen Dozenten an der Danziger Hochschule für Lehrerbildung H. J. Beyer
»Aufbau und Entwicklung des ostdeutschen Volksraums« <
243>. Von den geographischen und völkisch-biologischen Voraussetzungen
Ostmitteleuropas ausgehend, faßt Beyer
S.616 die Fülle der Erscheinungsformen des Deutschtums im Raum zwischen Ostsee und Schwarzem Meer zu einem anschaulichen Gesamtbild zusammen, für dessen Gediegenheit die überall erkennbare fleißige Quellen- und Literaturbenutzung spricht. Doch kommt der Verf. in klugem Abwägen auch zu eigenen Urteilen. -- Ein natürlicher geschichtlicher Raum steht im Mittelpunkt einer skizzenhaften Darstellung »Das germanische Meer. Geschichte des Ostseeraums« < 246> von Erich Maschke. Der Verf. erschöpft das Thema, das heute auf immer stärkeres Interesse stößt, natürlich nicht; er bietet mehr eine knappe Aneinanderreihung von Tatsachen. Ihre Auswertung und die Deutung der großen geschichtlichen Zusammenhänge kann auf den wenigen Seiten (40!), für die der Untertitel »Geschichte des Ostseeraums« etwas bedenklich erscheint, naturgemäß nur gestreift werden. |
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