IV. Einzeluntersuchungen.A. O. Meyers < 1040> »Bismarcks Glaube« liegt für das Berichtsjahr bereits in vierter erweiterter Auflage vor. Die ungewöhnliche Anziehungskraft auf einen breiteren Leserkreis läßt sich leicht begreifen, da die Anmerkungen zu den Losungen und Lehrtexten der Brüdergemeinde das wohl unmittelbarste Zeugnis für Bismarcks religiöses Leben sind. Sie zeigen, wie innig sein Naturempfinden damit verknüpft war. Die in den späteren Jahren spärlicher werdenden Notizen lassen auf keine Abschwächung dieser Religiosität schließen, wohl aber, daß diese des äußeren Ausdrucks immer weniger bedurfte. Meyer betont, daß der Zusammenhang mit Gott und dem Unsterblichkeitsglauben der einzige Grund für Bismarck waren, den er für die Verbindlichkeit des Sittengesetzes gelten ließ. --Mombauer < 1044> nimmt ein schon viel erörtertes Thema wieder auf, wenn er auf Grund des Briefwechsels mit Gerlach Bismarcks Weltanschauung analysiert. Die Arbeit schließt sich eng der These Stadelmanns von den zwei Möglichkeiten der Bismarckschen Außenpolitik an. Das Ergebnis dürfte nicht so neu sein, wie der Verfasser annimmt, die weltanschaulichen Grundlagen von Bismarcks Außenpolitik sind auch schon früher betont worden, auch daß man den Bismarck der Briefe an Gerlach nicht in einem scharfen Umbruch vom Parteipolitiker zum Staatsmann begriffen sehen darf. Anderseits wird die Bedeutung der Frankfurter Jahre entschieden unterschätzt; Bismarck mußte in einen größeren Gesichtskreis hineinwachsen und in der Behandlung von Menschen Erfahrungen sammeln. Valentin < 1041> bezweifelt wohl die Existenz von Gesetzen in der Geschichte, weist aber gewisse Spielregeln in Bismarcks Politik nach. Nach einer Untersuchung über die Sachkomplexe, Religion, Rasse, Wirtschaft, dynastische Verbindungen und Verfassungsform stellt er sieben Erfahrungsgrundsätze der Außenpolitik auf: 1. gemeinsame Erfolge sind mindestens ein Menschenalter lang wirksam und schaffen ein Band zwischen den Beteiligten (Preußen-Österreich/Napoleon); 2. Rivalitäten schaffen nach dem Ende des Kampfes feste Arbeitsgemeinschaften (England/USA.); 3. Beleidigungen, deren Gegenstand nicht erledigt ist, führen zu tiefer Feindschaft (Olmütz); 4. Mächte, die von einem Nachbar bedroht sind, suchen diesen mit Hilfe anderer einzukreisen (Bismarck 1866/Italien, Rumänien, Serbien, Ungarn); 5. Staaten in Auflösung rufen die Interessengemeinschaft der Nachbarn und Nachfolger hervor (Polen); 6. bei außenpolitischen Bündnissen sucht der Schwächere den Stärkeren zu lenken (Zweibund von Österreich beherrscht); 7. erfolgreiche Staaten entwickeln eine Art Missionsidee, die ihre Außenpolitik trägt (Bismarcks letzte Epoche). Hoffentlich findet dieses »Spiel mit Spielregeln« möglichst wenige Nachahmer. Noldes <
1045> Untersuchung über die Petersburger Mission Bismarcks hat ein
merkwürdiges Schicksal gehabt. 1924 in russischer Sprache in Prag erschienen, ist sie erst 1936 ins Deutsche
übersetzt worden, da widrige Umstände diese Verzögerung
S.271 erzwangen. Baron Nolde, Professor des Staatsrechts in Prag, hat den Anstoß zu dieser Arbeit aus seiner Überzeugung erhalten, daß die Jahre, in denen Bismarck als Gesandter in Petersburg tätig war, einen Wendepunkt in der russischen Geschichte darstellen: außenpolitisch durch den Versuch der von Gortschakoff beherrschten Gruppe, Rußland an Frankreich anzulehnen, innenpolitisch infolge der Bauernemanzipation und der Gärungen in Polen. Der wissenschaftliche Wert dieser Untersuchung wird natürlich dadurch beeinträchtigt, daß der Verfasser die in der Zwischenzeit erschienene Literatur, insbesondere die Quellen zur Außenpolitik Preußens nicht benutzen konnte. Trotzdem liegt hier der seltene Fall vor, daß das Buch nicht überholt ist, denn der Verfasser weist sich als vorzüglicher Kenner der russischen Literatur aus, die er weitgehend herangezogen hat; eine besondere ergiebige Quelle waren die Botschaftsakten in Paris. Der Leser erhält einen vorzüglichen Einblick in die verworrenen Verhältnisse Rußlands. Nolde geht von dem Gedanken aus, daß Gortschakoff gleichzeitig als Vertreter der liberalen Richtung die russisch-französische Annäherung erstrebte und daß das Duell dieses Staatsmannes mit Bismarck damals einsetzte, der den Kampf schließlich gewann. In bezug auf die Bauernemanzipation und die Vorgänge in Polen kann der Verfasser nachweisen, daß Bismarck mit einem für einen Ausländer seltenen Scharfblick in seinen Berichten die inneren Zustände geschildert und ihren Einfluß auf die Außenpolitik gewürdigt hat. Angesichts der Vorzüge dieser Arbeit wäre es zu wünschen, daß sie auf den heutigen Stand der Forschung gebracht wird. -- Für die innere Politik der Bismarckzeit ist das von dem bekannten Parlamentarier S. v. Kardorff < 1109> verfaßte Buch über seinen Vater Wilhelm ergiebig. Dem Herausgeber ist es nicht auf eine zusammenhängende Biographie angekommen, da das vorhandene Material zu lückenhaft war, er hat sich daher darauf beschränkt, eine zusammenfassende Darstellung der Kämpfe um diejenigen politischen Fragen zu geben, deren Lösung sein Vater entscheidend beeinflußte. Unter diesen Fragen steht der Kampf um den Schutzzoll im Vordergrund. Kardorff durfte sich das Verdienst zurechnen, Bismarcks Übergang zum Schutzzoll mit an erster Stelle herbeigeführt zu haben. Kardorff hat die Notwendigkeit dazu viel früher erkannt und ist in einer Schrift »Gegen den Strom« mutig der herrschenden Zeitströmung entgegengetreten. Man ersieht aus dieser Darstellung deutlich, daß Kardoffs politische Rolle mit der »Bismarck-sans-phrase-Politik« auf das engste verknüpft war. Der neue Kurs entzog ihm rasch den Boden unter den Füßen. Durch eine strengere Auswahl des literarischen Nachlasses hätte das Buch sicherlich gewonnen, auch würde dabei die Persönlichkeit Kardorffs schärfer hervorgetreten sein. Die ausführliche Wiedergabe von Reichstagsreden dürfte sich kaum durch allgemeines Interesse rechtfertigen lassen. -- Ein noch nicht völlig geklärtes Thema nimmt Bosbach < 1050> auf; das Verhältnis Bismarcks zur Kaiserin Augusta wird sich freilich erst dann darstellen lassen, wenn ihr Nachlaß vollständig zugänglich gemacht wird. So vermag der Verfasser nicht viel Neues zu sagen, auch die Quellenkritik läßt zu wünschen übrig. Wie in dieser Hinsicht vorzugehen wäre, um zu neuen Ergebnissen zu gelangen, hat der erwähnte Aufsatz von Haenchen < 1016> gezeigt. Tötter < 1113> untersucht auf Grund gedruckter Quellen, besonders von Zeitungen, den Kampf des Zentrums um Anerkennung. Es liegt nur ein Teildruck vor mit dem Kapitel »Das Jahr der Klärung«, in dem Schorlemer und Windthorst im Vordergrund stehen. Von den Neuerscheinungen über Bismarcks Außenpolitik sei zunächst die ergebnisreiche UntersuchungS.272 von Baum < 1053> über Bismarcks Verhältnis zu England genannt. Persönlich fühlte sich Bismarck zu den Engländern hingezogen; Selbstbewußtsein, Freiheitsliebe, Wagemut, Staatsgefühl waren Eigenschaften, die auch er in hohem Maße besaß; an ihrem selbstgerechten Gefühl, ihrer Unfehlbarkeit nahm er dagegen Anstoß. Im Hinblick auf die innere Politik Englands fand er den Sinn zur Selbsterhaltung, das Zweiparteiensystem und die parlamentarische Selbstzucht rühmenswert, während sein konservatives Empfinden sich gegen die schwache Stellung der Krone, die Auswüchse des Wahlrechts und des Freiheitsbegriffs auflehnte. Seine Politik gegenüber England wurde durch die häufigen Regierungswechsel, den Einfluß des Parlamentes auf die Außenpolitik und die leichte Gefährdung diplomatischer Geheimnisse durch dasselbe stark belastet. Baum korrigiert die Ansicht Schnabels über Bismarcks Beziehungen zu England, der im 2. Bd. S. 185 gemeint hat, daß Bismarck das französische Volk lieber gewesen sei als das englische. Man wird hinzufügen können, daß der Fürst die Beengung der deutschen aufstrebenden Macht durch das englische Weltreich stark empfunden hat. Vgl. dazu die von Heiß < 1049> wiedergegebene Äußerung: »Gibt es denn überhaupt ein Fleckchen auf Gottes weiter Erde, wo England nicht seine Interessen gefährdet sieht oder gefährdet glaubt?« -- Die Betrachtung von Hans Hallmann < 1103> über Bismarck und Marokko, für die er sich vornehmlich auf die französischen diplomatischen Dokumente stützt, bestätigt eine der grundlegenden Wahrheiten der Bismarckschen Außenpolitik, daß er die außereuropäischen Angelegenheiten fest an die Kontinentalpolitik gebunden hielt. Marokko war ihm anfänglich ein Mittel, Frankreich abzulenken; als dieser Versuch scheiterte, war es eines von den Objekten, mit dem er um das Verhältnis zu England, Italien und Spanien balancierte. Eigne Pläne verfolgte Deutschland damals in Marokko nicht; Bismarck erstrebte nichts anderes als die handelspolitische »offne Tür«. -- M. Danaïllow < 1101> wendet sich gegen die weitverbreitete Meinung, daß Bismarcks Politik für die Befreiung Bulgariens verhängnisvoll gewesen sei. Der deutsche Staatsmann habe auf dem Berliner Kongreß Bulgarien nicht preisgegeben, vielmehr die russische Politik soweit wie möglich unterstützt und zwischen Österreich und Rußland vermittelt. Wenn der Berliner Kongreß den Bulgaren die volle Erfüllung ihrer nationalen Wünsche versagte, so habe dieses am Widerstand anderer Staaten, insbesondere Englands, gelegen. --Bratianu < 1051> befaßt sich mit den Beziehungen zwischen Jon Bratianu und Bismarck, insbesondere im Zusammenhang mit dem Berliner Kongreß und dem Bündnisvertrag Rumäniens mit den Mittelmächten 1883, der von der deutschen Politik als Frage von dynastischem Interesse angesehen worden sei und die rumänische Außenpolitik bis zum Konflikt in der Deutung des Bündnisvertrages 1914 beherrscht habe. Die konservative und defensive Haltung Rumäniens zu Rußland habe sich erhalten, und zwar von dem Bewußtsein getragen, »Hüter einer freien Donau« und ein Wall gegen bolschewistische, Rumänien gänzlich fremde Lehren zu sein. -- W. Krumbiegel < 1100> nimmt Bismarcks Stellung zum Battenbergischen Heiratsplan unter die Lupe. Er lehnt sich eng an die Auffassung von Bamberger an, aus dessen Buch er lange Zitate mitteilt. Der vom Verfasser vertretenen Auffassung, daß Friedrich III. nicht unter dem Einfluß seiner Gattin gestanden, und daß die Battenbergische Heirat keine politische Bedeutung gehabt habe, wird man kaum beipflichten können.Für die allgemeine Geschichte von 1871--1914 legt Hünerwadel <
1088>
S.273 den zweiten Band seines Werkes vor, d. h. nur die erste Abteilung davon, in der die Geschichte der wichtigsten Staaten von 1870--1914, der Sozialismus und die katholische Kirche behandelt werden, während der zweite Teil als eine Art Vorgeschichte des Weltkrieges gedacht ist. Was schon für den ersten Band <1933/34, S. 310> gesagt werden mußte, gilt auch hier: eine auf selbständiger Erforschung der Quellen beruhende Darstellung liegt nicht vor, wohl aber, vom Standpunkt eines liberalen Schweizers aus ein anerkennenswerter Versuch, den geistigen und politischen Voraussetzungen der sogenannten faschistischen Staaten historisch gerecht zu werden. -- Über Moltkes Plan zum Zweifrontenkrieg, der mehrfach verändert worden ist, erhalten wir von Rassow < 1089> eine aufschlußreiche Studie. Moltke ging von der politischen Lage aus und sah für den Osten wie für den Westen Offensivaktionen vor, wobei er doch für den Westen von dem »Grundgefühl beherrscht« wurde, streng defensiv bleiben zu müssen. An einen französischen Vormarsch durch Belgien hat er nicht geglaubt. Expansionsziele im Osten vertrat er nicht; im Hinblick auf die polnische Frage näherte er sich allerdings sehr stark der offiziellen Politik im Weltkrieg, wenn er eine Insurrektion und die Wiederherstellung Polens ins Auge faßte. Der russisch-österreichische Militärvertrag vom 15. 1. 1877 sah angesichts der drohenden Haltung Österreichs im Westen nur eine taktisch-offensiv geführte strategische Defensive vor, die strategische Offensive sollte im Osten folgen, eventuell gegen Österreich. Bei wohlwollender Haltung Österreichs sollte erst Rußland geschlagen und dann die Hauptarmee gegen Frankreich geworfen werden. Die strategische Hauptidee, Defensive im Westen -- taktische Offensive im Osten, blieb auch nach Abschluß des Zweibundes für den Fall eines Krieges, zu dem Rußland später hinzutrat, erhalten. Von den starken russischen Rüstungen in Polen bestimmt, schlug Moltke 1887 einen Präventivkrieg gegen Rußland vor; ein Gedanke, den Bismarck bekanntlich ablehnte. Die Gesamthaltung war also defensiv, das Kriegsziel galt nur der Erhaltung des Reiches. Die Pläne zeigen Moltke frei von Dogmatismus, er richtete sich nach der politischen Ausgangslage. Die von Stählin < 1092> mitgeteilten Briefe von Louis Schneider umfassen die Jahre 1874--1878 und zeigen ihn als erklärten preußischen Partikularisten und Feind Bismarcks, zu dessen Opfern er auch den Kaiser rechnete. Die Briefe sind voller Indiskretionen, die dem russischen Empfänger sehr erwünscht sein mußten. Schneider glaubte die Freundschaft des Kaisers mit dem Zaren zu fördern, brachte aber seiner »fixen Idee« der unbedingten Zusammengehörigkeit ihrer beiden Reiche sein eigenes Deutschtum zum Opfer. Die Briefe haben hauptsächlich die russische Balkanpolitik zum Inhalt.F. Leidner <
1095> haben gründliche archivalische Studien ermöglicht, die
Außenpolitik Österreichs unter Andrassy einer neuen Beleuchtung zu unterziehen. Außer den Wiener
Staatsakten standen ihm englische Quellen zur Verfügung, die das Bild in erwünschter Weise ergänzen.
Über Wertheimer hinaus und teilweise im Widerspruch zum Biographen Andrassys wird dessen Geheimverhandlungen mit
England Anfang der siebziger Jahre große Bedeutung zugemessen und das Ergebnis als ein Mißerfolg des
österreichischen Ministers bezeichnet. Denn Andrassys Grundidee habe auf der Herstellung einer neuen Konstellation
Österreich- Deutschland-England beruht mit der Spitze gegen Rußland, dem er schon als Ungar die Politik der
Revolutionsjahre nie verziehen hat. Er wollte Deutschland von Rußland lösen. Das ist ihm freilich, da er
einen Bismarck zum Gegenspieler hatte, nicht gelungen; aber schon Andrassy legte das Bündnis von 1879 so aus,
S.274 wie die nachfolgenden österreichischen Regierungen: es sollte eine Rückendeckung für eine letzten Endes gegen Rußland gerichtete Balkanpolitik sein. -- Das Erscheinen des fünften Bandes der französischen diplomatischen Dokumente veranlaßt T. Heyse < 1097>, den Verlauf der Westafrikanischen Konferenz darzustellen. Unter anderem wird Courcels Urteil erwähnt, der Bismarcks Politik als ein hervorragendes Meisterwerk bezeichnet hat; bei anscheinender Neutralität habe er England einen Streich spielen wollen, in der Hoffnung, daß die beiden Westmächte in einen Gegensatz zu einander gerieten, eine Auffassung, die das tatsächlich erstrebte Ziel, im Interesse Deutschlands einen ziemlich weitgehenden Ausgleich zwischen den Mächten herzustellen, mißdeutet.Freifrau A. v. Brand < 1111> teilt persönliche Erinnerungen an ihren Vater Ernst von Bergmann mit. Das Konto der Kronprinzessin und Mackenzies wird erneut schwer belastet. Danach hat sie vor der Berufung Mackenzies zugegeben, daß sie schon einmal gegen den Rat deutscher Ärzte gehandelt habe. Erschütternd ist das Bild, das sich in St. Remo bietet; dem unglücklichen Kranken wurden einige Erleichterungen nicht gewährt, um seinen Zustand weniger ernst erscheinen zu lassen. Mackenzie soll einmal mit einem Stilett auf Bergmann losgegangen sein. Der Haß des Vaters gegen den englischen Arzt hat sich anscheinend auf die Tochter übertragen, er wird allzusehr schwarz in schwarz gemalt. -- Durch statistische Vergleiche sucht G. Scholtz < 1110> nachzuweisen, daß die mittlere Generation durch den Regierungswechsel von 1888 von aller Wirksamkeit ausgeschaltet worden sei. H. Richter < 1112> stellt zusammen, was bisher über die Tagebuchaffäre und ihren Urheber Geffcken schon bekannt war; Berichte aus dem Dresdner Archiv ergänzen das Bild; ein bisher unbekannter Brief Geffckens zeigt, wie er selbst die Veröffentlichung ansah. Wohl gibt er die Unüberlegtheit der Handlung zu, aus seinen Worten spricht aber der Triumph, sie doch getan zu haben. |
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