II. Kriegsschuldfragen und Kriegsausbruch.Eine neue
Gesamtdarstellung des Kriegsausbruches liegt aus der Feder N. Japikses <
1189> vor, der damit die wertvolle Schriftenreihe des
Niederländischen Untersuchungsausschusses zur Kriegsentstehung zum Abschluß bringt. Der Wandel der
wissenschaftlichen Haltung zur Kriegsschuldfrage im neutralen Ausland kommt bei ihm mit dem Urteile zum Ausdruck,
daß das deutsche Eintreten für das Vorgehen Österreichs gegen Serbien zwar eine Übereilung
bedeutet, aber »keiner der Staatsmänner von 1914 den Krieg bestimmt gewollt« habe. Die Schuldfrage ist
auch hier, wie in jeder wissenschaftlich ernst zu nehmenden Behandlung des Problemes, durch die Frage nach der
Verantwortlichkeit der handelnden Persönlichkeiten nach dem Maßstabe ihres politischen Standortes und ihres
Könnens
S.288 ersetzt, die eine fatalistische Notwendigkeit der Katastrophe im Jahre 1914 ablehnt. -- A. von Wegerer < 1190> hat vor dem Abschluß seiner langjährigen verdienstvollen Wirksamkeit an den Berliner Monatsheften eine Auswahl seiner Aufsätze zur Kriegsschuldfrage gesammelt, die einen illustrativen Längsschnitt mehr durch die politische, als dieses Mal die wissenschaftliche Entwicklung der Kriegsschulddiskussion seit 1919 vermittelt. -- Er hat ferner das persönliche Endergebnis seiner Beschäftigung mit dieser Frage in einem mehrfach anregenden Aufsatz über »Kriegswillen und Kriegsausbruch 1914« < 1191> zusammengefaßt, der zwar die These einer Zwangsläufigkeit der Katastrophe von 1914 noch immer ablehnt, aber ähnlich wie Japikse auch für Rußland und Frankreich sehr viel stärker als bisher das Vorhandensein eines eigentlichen Kriegswillens fallen läßt. Nun ist es zwar richtig, daß allein die bündnispolitische Abhängigkeit von der englischen Hilfe in Petersburg und Paris einschränkend auf die zum Krieg führenden Tendenzen wirken mußte, aber die Mischung retardierender und vorwärtstreibender Motive scheint in dieser letzten Formulierung des verdienten Kriegsschuldforschers doch zu stark abschwächend wiedergegeben, der gefährliche Druck der Schuldfragenstellung sich noch einmal ablenkend auszuwirken, so sehr auch bei dieser Fragenstellung der defensive Charakter der deutschen wie österreichischen Politik zu ihrem Rechte kommt. -- Die Spannung zwischen historischer und Schuldfragenstellung sucht dagegen die Berliner Antrittsvorlesung W. Frauendiensts < 1192> zu überwinden, indem in großem Überblick die eigene historische Entwicklung der Schuldthese vom Kriegsende bis zur jüngsten Zeit behandelt wird. -- K. Keppler < 1200> hat in einem Aufsatz erneut die Bedeutung des deutsch-amerikanischen Friedensschlusses von 1921 als bloße de-facto Herstellung des Friedenszustandes beleuchtet, die gegen die französische These keine Bestätigung des Kriegsschuldartikels 231 durch die Vereinigten Staaten darstellt. -- Die Stellung der Rechtswissenschaft zur Kriegsschuldfrage hat stoffreich H. Rogge < 1193> in einer Abhandlung untersucht, die scharf betont, daß das Problem als unhistorisch der Zuständigkeit der geschichtlichen Wissenschaft entzogen sei. Der Historiker habe sich mit vollem Rechte stets geweigert, sich der in Versailles vollzogenen Vermischung von Schuld- und Tatfrage zu beugen, während im Falle des Gegenteils dieser Druck stets entweder eine bedauerliche Zurückhaltung der rein historischen Wissenschaft oder, wo man ihm nachgab, vielfach eine Trübung ihres Methodenweges zur Folge gehabt habe. Unter lehrreicher Behandlung der gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen und historischen Forschungslage mündet der Aufsatz in die Forderung nach sauberer Scheidung von Rechts- und Tatfrage, die erst ein fruchtbar paralleles, aber getrenntes Zusammenarbeiten von Rechtswissenschaft und Geschichte auf diesem Gebiete erlauben werde.Zu den Einzelproblemen der Kriegsentstehung hat L. Bittner <
1203> eine knappe Darstellung der Rolle Österreichs gegeben, die
nicht nur die Existenznotwendigkeit der Defensive gegen Serbien unter Benutzung mündlicher Mitteilungen von
Berchtold und Musulin erneut hervorhebt, sondern auch den besonderen Anteil Österreichs an der
Kriegsschulddiskussion gut skizziert. -- Parallel dazu hat Math. Uhlirz <
1201> eine kenntnisreiche, knappe Skizze über das Attentat von
Sarajewo und seine Bedeutung für die Schuldfrage gegeben, die jedoch die serbische Verantwortlichkeit an wichtigen
Punkten zu
S.289 sehr abschwächend behandelt. -- Zu dem Fragenbereich der österreichisch-serbischen Krise sind neben einer Diskussion Wegerer-Hadamard < 1204> über die Absicht Österreichs, die serbische Souveränität anzutasten, noch die Aufzeichnungen des Frhrn. von Macchio < 1202> aus der Julikrise zu erwähnen, die sich energisch gegen die überwiegend ungünstige Beurteilung Berchtolds in der Literatur zur Wehr setzen und brauchbare Streiflichter zur Wertung auch der übrigen maßgebenden Persönlichkeiten des Ballhausplatzes und der Wiener Diplomatenwelt von 1914 aus eigener Erinnerung bringen. -- A. von Wegerer < 1199> hat schließlich nachdrücklich auf die Bedeutung eines in der russischen Ausgabe der Kriegsakten (Hoetzsch-Pokrowski VIII, 1; Nr. 243) enthaltenen Dokumentes vom 24. VI. 1915 hingewiesen, in dem Grey mit nüchternen Worten gegen die hartnäckige serbische Ablehnung jeder Konzession an Bulgarien zum Ausdruck gebracht hat, daß die Katastrophe des Weltkrieges nach englischem Urteil durch die konsequente Angriffspolitik Serbiens gegen den österreichischen Nachbarn entfesselt worden sei.Der Anteil Rußlands an der Katastrophe bildet den Gegenstand des Buches von G. Ottmer < 1198>, das vor allem das Verhältnis von Heer und politischer Leitung in Rußland beim Mobilmachungsentschluß noch einmal eingehend untersucht und sich energisch gegen die Neigung wendet, die zweideutige Rolle Suchomlinows gegenüber dem Kampf um Teil- oder Gesamtmobilmachung milde zu beurteilen. In starkem Gegensatz zu der vielfach auftretenden Neigung, sich dem Satze Lloyd Georges zu nähern, daß die verantwortlichen Staatsmänner von 1914 sämtlich in den Krieg hineingetaumelt seien, hat H. Oncken (Nation und Geschichte <1935, 223>, S. 439--514) die Rolle Greys noch einmal in einer Abhandlung sehr eingehend untersucht, die als wesentliche Ergänzung seines großen Buches nicht übersehen werden darf. Er hebt die alle anderen Motive weit überragende Starrheit seiner Bindung an die Entente, die Bedeutung seiner Demissionsdrohung, falls England seine Freunde im Stich lassen werde, mit Recht als entscheidend hervor. Unter ausführlicher Verwertung des Materials der letzten Jahre über die inneren Voraussetzungen des englischen Kriegsentschlusses und die ihm vorhergehenden Kämpfe im Foreign Office, Kabinett und Öffentlichkeit betont er, daß der englische Interventionsentschluß im Grunde schon mit der Flottenzusage an Frankreich vor der Übergabe der deutschen Durchmarschforderung in Brüssel entschieden gewesen sei. Auch die englische Seite der Katastrophe beruhe im Gegensatz zu der Neigung, das passive Mitgerissenwerden der handelnden Persönlichkeiten zu überschätzen, damit auf dem Sieg der im Bündnissystem der Vorkriegsjahre wurzelnden stabilen Elemente des Foreign Office gegen den »Geist des parlamentarischen Systems«, dessen liberale Mehrheitsvertreter ohnmächtig gegenüber den aktiv vorwärtstreibenden Persönlichkeiten der berufspolitischen und militärischen Willensträger blieben. Dabei ist scharf betont, daß damit nicht erneut eine moralische Schuld festgestellt werden solle, sondern die Verantwortlichkeitsfrage aufgerollt wird, ob nicht ein »Fehler« im Sinne des bleibenden englischen Interesses begangen ist, so daß der Aufsatz als eine der wertvollsten neueren Gesamtdiskussionen des englischen Anteils am Kriegsausbruch auch im Verhältnis zu dem eingehenden Buche von E. Anrich gewertet und beachtet werden muß. Der Anteil der Berliner Monatshefte im
Berichtsjahr hat sich schließlich
S.290 wesentlich in der umfangreichen Aufsatzreihe konzentriert, die noch einmal kritisch vergleichend die Geschichte der europäischen Mobilmachungen von 1914 < 1205> erörterten und, im einzelnen nach Persönlichkeit der Bearbeiter und Forschungsstand von unterschiedlichem Werte, als Ganzes eine dankenswerte Orientierung über das viel umkämpfte Problem nach dem heutigen Wissensstande bieten. |
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