§ 75. Vereinigte Staaten von Amerika(F. Schönemann) (Die in Winkelklammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Bibliographie S. 638 f.) Kloß <
1> erweckt große Hoffnungen mit seinem Gegenstand, der die deutsche
Geschichte ebenso angeht wie die amerikanische. Leider verliert sich die etwas selbstgefällige Darstellung ohne
klare Linie in allerengste Lokal- und Vereinshistorie. Aber der Stoff ist ungeheuer reich. Anstatt eines
»Bibliographischen Nachworts« und 621 Anmerkungen wäre uns eine wesentliche Bibliographie ebenso
willkommen wie nötig gewesen. K. berichtigt die vorherrschende Auffassung vom Deutschamerikanertum (DA.) als einem
liberal-städtischen Volksteil; tatsächlich wirken auch starke konservative Kräfte in einem meist
ländlichen Volksteil. Er betont weiter die Wichtigkeit des Kirchendeutschtums, das auch in den Jb. öfter
erwähnt worden ist. Er schätzt für 1930 die Kirchendeutschen auf 2 Millionen, die Vereinsdeutschen auf
dieselbe Zahl, die mehr oder weniger marxistischen Sozialisten auf 200_000, alle Deutschsprecher unter den DA. auf 6,5
Millionen. Er behandelt die Zerrissenheit des DA. in »eine Reihe von totalen Weltanschauungsgemeinschaften«
als wesentliche Ursache dafür, daß es eine einheitliche politische Willensbildung nicht gibt. Das
überlieferte Bild vom DA. als »einer atomisierten Masse« bedarf der Ergänzung: neben
Streuwanderung (besonders spätliberale städtische Einwanderung) haben wir Gemeinschaftswanderung (so beim
Kirchendeutschtum; vgl. schon Joseph Schebens Veröffentlichungen). K. erkennt weiter, daß das DA. nicht eine
ganz bestimmte Einzelrichtung innerhalb des Amerikanertums (die liberale Einwanderung ist nicht zu
überschätzen!), sondern die weltanschauliche Ausrichtung und Gliederung in allen Lagern des A. gestärkt
hat (S. 39). Zur Entstehungszeit der einzelnen Weltanschauungsgruppen im 19. Jh. (S. 42 ff.): katholische Einwanderung
(Stichjahr 1837: erste Zeitung, 1842 erster Unterstützungsverein); lib.-protest. (1840: erste Synode);
altlutherische (1845: Buffalosynode, 1847 Missourisynode; vgl. S. 80--84); sozialist. (1852, 1872). Drei
Einwanderungswellen lib.-bürgerlich: die Dreißiger, Achtundvierziger und die Reichsdeutschen (nach 1872).
»Und aus der Verschmelzung dieser drei Wellen, der spätlib. und der zwei gesinnungsliberalen, ging das
Vereinsdeutschtum hervor.« Der 2. Hauptteil behandelt die kirchlichen Einigungsbestrebungen. Bis etwa 1830 war ein
Zusammenschluß der Hauptmasse der deutschen Protestanten (die Kolonialzeitdeutschen des 17. und 18. Jh. waren
durchweg protestantisch) noch möglich, und das hätte eine Einigung des Gesamtdeutschtums bedeutet. Nach 1830
gab es eine neue Einwanderung von Katholiken und Liberalen, nach 1839 von Altlutheranern, die jedem Zusammengehen mit
den Reformierten feindlich entgegenstanden. Ebenso setzte eine Werbung ein der angelsächsischen Kirchen im DA.,
besonders der Methodisten, Presbyterianer und Baptisten. Unter den deutschprotestantischen Einigungsbewegungen verdienen
zwei besondere Erwähnung: I der Kelpius-Kreis, II die »Gemeine Gottes im Geist«. I hat seinen Namen
nach
S.636 dem Siebenbürger Johann K. (1673--1708), der im Gegensatz zu F. D. Pastorius stand, dem Begründer von Germantown (1683). Im Mittelpunkt von II stand Zinzendorf mit seinen »Teutschen Generalsynoden« (ab 1742). Die Leute um I kamen aus Speners, die von II aus A. H. Franckes Welt. Eine eigentliche Volksgruppeneinigung wurde zuerst von Otterbein versucht (1726--1813), einem Nachfahren Zinzendorfs, und später von der Helmuth-Bewegung (1810--20). Nach 1830 entstanden eine Reihe von Zusammenschlüssen unter den Deutsch-Protestanten, die sich bis in unsere Tage fortsetzen. Nur mit einem Unterschied: alle Verschmelzungen des 18. und 19. Jh.'s hatten den Nebenzweck, die deutsche Kirchensprache besser pflegen zu können; dagegen haben spätere Zusammenschlüsse den allseitigen Rückgang der deutschen Sprache zur Voraussetzung. Die Deutsch-Katholiken haben ähnlich wie die Altlutheraner im DA. gleichsam eine eigene Volksgruppe gebildet mit dem Centralverein (1856) als wichtigster Organisation und dem Cahensly-Streit (1891 ff.) als stolzestem Beitrag zum Volkstumsgedanken (S. 151 ff.). Nach K. waren sie »die einzige deutsche Gruppe, welche zu allen Lebensbereichen als Abstammungsgemeinschaft und als Bekenntnisgemeinschaft Stellung genommen hat« (S. 181). Bei den weltlichen Einigungsbestrebungen werden die der Dreißiger und die der Achtundvierziger verdienstlich unterschieden. Jene haben besonders das DA. als »Volksgruppe« begriffen, sie stellen die 2. Volksgruppenbewegung im DA. dar (die 1. gehört in die achtziger Jahre des 18. Jh.). Sie erkämpfen die deutsche oder zweisprachige Staatsschule, diese (die 1848er) die Einführung des Deutschen als Unterrichtsfach in die englische Staatsschule. Jene haben auch ein fruchtbareres Verhältnis zu den konservativen Deutschtumsgruppen und zum Kirchendeutschtum (S. 215 ff.). Besonders entschlossene Volkstumspolitik wird in Ohio und Pennsylvanien betrieben, wo das DA. bodenständig war (Pittsburger Bewegung 1836 ff.; Plan einer deutschen Universität, eines deutschen Gliedstaates u. a. m.). Erwähnenswert bleiben auch deutsche Bemühungen in Texas (die sog. frühtexanische Bewegung, vor 1845 Versuche einer deutschen Einheitskirche, eines deutschen Bundes und einer deutschen Universität in Texas, S. 191 ff.). Die Hauptzeit der Achtundvierziger (1850 bis 1880) war für weltliche Einigung nicht günstig. Sie hatten einen defaitistischen, angleichungswilligen Flügel, als dessen »klassischen Sprecher« K. Friedrich Kapp bezeichnet (S. 218 u. ö.). M. E. sieht er damit in Kapp nur eine Seite seiner Bedeutung. Sie hatten einen verengten volksdeutschen Gedanken, waren fast ohne Verbindung mit dem amerikanischen Boden und dem Landdeutschtum. Die politischen Frühbestrebungen gingen hauptsächlich vom linken Flügel aus, die kulturellen wandten sich an die Gesamtheit, der Brobst-Plan (1876) stammte von einem Nicht-Achtundvierziger und umschloß alle Weltanschauungsgruppen im DA. Zwei neue Ideen tauchten auf: die Gründung einer besonderen deutschen oder deutschgeführten Partei und eines politischen Verbandes auf volklicher Grundlage. Zur Zeit des Bürgerkriegs (1861--1865) war der Gipfelpunkt -- und der Wendepunkt der Geschichte des DA.: »Vor dem Bürgerkrieg 1860 die einzige nennenswerte fremdsprachige Volksgruppe, nach dem Krieg politisch gespalten und nur noch eine unter vielen anderen Einwanderergruppen« (S. 230). Die 3. Volksgruppenbewegung (1860--1875) kreiste um die Einführung des Deutschen (als Unterrichtsfach) in die öffentlichen Grundschulen. Der Seminargedanke von 1860 u. ö. fand Erfüllung im »Nationalen Deutschamerikanischen Lehrerseminar« (Milwaukee 1878--1919). Die spätliberale Zeit (1880--1930) brachte u. a. einenS.637 Schulverein (1885), die Deutsche-Tag-Bewegung (seit 1883), den Nationalbund (1901--1918), die einzige wirkliche Massenbewegung im DA., und die Steuben- Gesellschaft (seit 1919). Ob K.s Voraussagen für die Nationalsozialisten im DA. zutreffen (S. 309 f.), kann nur die Zukunft entscheiden.Hannemann < 2> gibt eine bevölkerungsgeographische Studie, die schon mit ihren Tabellen und Tafeln (nach der Punktmethode) und gestützt auf die Zensusberichte unentbehrlich für die weitere geschichtliche Erforschung des DA. ist. Die Verbreitung des DA. wird in sechs einzelnen Landschaften als kulturgeographischen Einheiten untersucht: 1. Nordosten bis Wisconsin und nördlich von Virginien, 2. Südosten, 3. Nordwestzentralstaaten, 4. Südwestzentralstaaten (Arkansas, Louisiana, Oklahoma, Texas), 5. Felsengebirgsstaaten, 6. Pazifische Staaten (Washington, Oregon, Kalifornien). Tabelle 3 gibt die Verteilung der im Deutschen Reich Geborenen auf die einzelnen Landschaften. Allgemein spiegelt die Entwicklung des DA. die amerikanische Gesamtentwicklung wider, u. a. die jeweilige Wirtschaftslage. Trotzdem zeigt das DA. Züge, die durch den deutschen Charakter bestimmt sind: starken Hang zur Seßhaftigkeit, die auch das städtische Element auszeichnet, daher auch geringe Beteiligung an der amerikanischen Binnenwanderung. Sehr aufschlußreich ist der Nachweis (zur Korrektur von Kloß!), daß schon 1870 der deutsche Farmer keineswegs in großen Zahlen anzunehmen ist, und daß 1930 fast drei Viertel aller im Reich Geborenen in Städten wohnt unter Bevorzugung der Großstädte. Seit 1860 ist die Verstädterung des DA. viel stärker als die der Gesamtbevölkerung! Die Konstanz der Besiedlung und die Verstädterung gelten auch genau so für die von deutschen Eltern in Amerika Geborenen. Sorgfältig ermittelt H. etwa 21 Millionen Personen deutschen Blutes in Amerika. 1920 war etwa jeder vierte weiße Amerikaner deutschblütig! The Germans in American Life < 3> sind mit Kritik aufzunehmen, da zu ihnen wahllos auch Juden und Holländer gerechnet werden; außerdem wird unter »Germanic« verstanden: alles was in Mitteleuropa lebt und deutsche Dialekte spricht (S. 17). Die Tatsachen des deutschen Einflusses in Amerika: in Wirtschaft, besonders Landwirtschaft (S. 86 ff.), Erziehung, Wissenschaft, Kunst, Journalismus, Literatur und Musik werden im ganzen gerecht zusammengestellt. Aber ob das Buch in der amerikanischen Schule wirklich Gutes stiftet, muß bezweifelt werden. --Hatfield < 4> erhebt nur durch seinen 1. Vortrag »Die deutsche Kultur in Amerika« einen Anspruch auf unsere Erwähnung, aber dieser Beitrag gibt nur den »angelsächsischen« Gesichtspunkt und ist als Tatsachenbericht weder vollständig noch neu. --Walz < 5> genügt wissenschaftlichen Ansprüchen, außer mit seiner Bemerkung über die akademische Freiheit von heute (S. 72). Deutscher Einfluß auf die amerikanische Erziehung erstreckt sich vom Kindergarten (das Wort selbst ist in den amerikanischen Wortschatz eingegangen) auf die Volksschule, die Lehrerseminare und die Universitäten (Staatsuniversität Michigan 1852; Forschungsuniversität Johns Hopkins 1876). Die amerikanischen Zeugnisse, sorgfältig belegt, sind überzeugend und sollten Allgemeingut in Deutschland und Amerika werden! Hans Grimm <
6> verweilt besonders bei Pastorius und der Begründung von Germantown
und den Gelegenheiten des DA.: »Der Dienst an Deutschland und der übrigen Welt liegt weder im raschen Tadel
noch selbst im eifernden Lobe, sondern im Verstehen und in der Verbreitung des Verständnisses.« Er empfiehlt
schließlich eine »Verständigung zwischen den drei Nordmännern Deutschland, Amerika und England um
ihrer erkannten Gemeinsamkeit willen«.
S.638 Gongaware < 7> gibt eine gutdokumentierte Geschichte der German Friendly Society von Charleston, South Carolina. Außer der eigentlichen Vereinsgeschichte unter dem Motto »Fleiß, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit«, die neues Licht auf eine wertvolle deutsche Vereinigung wirft, interessiert u. a. die Einrichtung einer Schule für die Kinder der Gesellschaft (1802--1833) lange vor einem allgemeinen öffentlichen Schulsystem Amerikas oder die herzliche Aufnahme des Herzogs Bernhard von Sachsen-Weimar (Dez. 1825; S. 97 ff.). Die Gesellschaft stiftete 1884 zur Ausschmückung des South Carolina-Zimmers in Mt. Vernon (General Washingtons Landsitz) ein Porträt des Baron Johann De Kalb (S. 183), der während der Belagerung von Charleston (1780) mit den Deutschen der Stadt und auch der German Friendly Society in Verbindung getreten war. Wie religiös-skrupelvoll diese Charleston-Deutschen im übrigen waren, geht aus der Tatsache hervor, daß sie der großen Schiller-Feier 1859 fernblieben, nur weil diese an einem -- Sonntag stattfand! Weng < 8> untersucht die Sprachenfrage bei der Lutherischen Kirche in Pennsylvanien 1742--1820. Meist wünschte die zweite Generation Englisch als Kirchensprache und gab die Kirche gänzlich auf oder trat bei englischsprechenden protestantischen Gemeinden ein, während die erste Generation durchweg zum Luthertum in der deutschen Sprachform stand. 1742 erschien Heinrich Melchior Mühlenberg in Amerika, der Patriarch der American Lutheran Kirche. 1820 wurde die Generalsynode organisiert und Englisch zur Mehrheitssprache. Mühlenberg selbst predigte eine Zeitlang Holländisch am Vormittag, Deutsch nachmittags und Englisch abends! Unglaublich bitter tobte der Sprachenkampf in der St. Michaelskirche in Philadelphia (1803 ff.). Eine Denkschrift vom 6. 10. 1815 von etwa 200 Deutschen enthielt das feierliche Versprechen, »mit Leib und Leben den deutschen Gottesdienst gegen jeden Angriff zu verteidigen«. Nach stürmischen Wahlen (1816) kam es sogar zur Verhaftung von 59 »Unterzeichnern« und ihrer Verurteilung wegen »Verschwörung«! Eine wichtige Rolle spielte auch Helmuth (S. 363 ff.), was zur Ergänzung von Kloß' Darstellung der Helmuth- Bewegung gehört. -- Die Americ. Hist. Rev. < 9> druckt drei Berichte von Hülsemann (1799--1868) als Sekretär der österreichischen Legation in Washington, D. C., später bis 1863 Gesandter ebenda, über seine Reisen Sommer 1840 durch Kanada (II) Ohio (III). Er mißbilligt politischen Separatismus des DA. in Amerika, z. T. im Interesse von Amerikas Einheitlichkeit, z. T. aber auch (echter Mitarbeiter Metternichs!) aus Furcht für Europa, wo unassimilierte Volksgruppen sich revolutionär einmischen könnten (S. 510/11). Für den Mittelwesten sieht er Gefahren durch eine Demokratie, die für Neuengland paßt, aber nicht für so andere Einflüsse des Bodens und der Bevölkerung! 1 Kloss, Heinz: Um die Einigung des Deutschamerikanertums. Die Geschichte einer unvollendeten Volksgruppe. -- Berlin, Volk und Reich Verl. 328 S. 8. 10 RM. 2 Hannemann, Max: Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten. Seine Verbreitung und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Petermanns Mitteilungen. Ergänzungsheft Nr. 224. -- Gotha, Justus Perthes. 62 S. 4. Mit 4 Tabellen und 13 Tafeln. 12 RM. 3 Davis-Du Bois, Rachel und Schweppe, Emma: The Germans in American Life. -- New York, Nelson 1936. 180 S. 8. (Building American Culture.) S.639 4 Hatfield, James Taft: Four Lectures (original and in translation) given at German universities in Febr. 1936. -- Evanston, III., Northwestern Univ. Pr., IX, 108 S. 4. 5 Walz, John A.: German Influence in American Education and Culture. -- Philadelphia 1936, Carl Schurz Memorial Foundation, Inc. 79 S. 0.50 Dollar. 6 Grimm, Hans: Amerikanische Rede. Gehalten am 6. Oktober 1935 in New York. -- München, Albert Langen/Georg Müller. 21 S. 7 Gongaware, George Jonas: The History of the German Friendly Society of Charleston, South Carolina. 1766--1916. Comp. from orig. sources. -- Richmond 1935, Garrett & Massie, XV, 226 S. 8. 8 Weng, A. G.: The language problem in the Lutheran church in Pennsylvania, 1742--1820. In: Church History, Vol. 5, S. 359--375. 9 Effroymson, C. W.: An Austrian diplomat in America 1840. In: Amer. Hist. Rev. Vol. 41, S. 503--514. 3 Berichte von Johann Georg Ritter von Hülsemann an Metternich. |
Diese Seite ist Bestandteil des Informationsangebots "Jahresberichte für deutsche Geschichte" aus der Zwischenkriegszeit (1925-1938) |