Dieter Dowe

 

Vorwort

 

"Neue Perspektiven auf Karl Marx' Werk" war der Titel einer Diskussionsveranstaltung, die die Internationale Marx-Engels-Stiftung, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und die Friedrich-Ebert-Stiftung am 27. Januar 2005 in Bonn abhielten. Anlass war die Vorstellung des insgesamt 50. Bandes der neuen historisch-kritischen Gesamtausgabe zu Marx und Engels, der MEGA, die von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung herausgegeben wird. Dieser Band, innerhalb der MEGA Band 15 der Zweiten Abteilung, ist dem dritten Band von Marx' ökonomischem Hauptwerk "Das Kapital" gewidmet.

Die hier veröffentlichten, geringfügig überarbeiteten Vorträge von Prof. Dr. Herfried Münkler, Prof. Dr. Dr. h.c. Bertram Schefold und Prof. Dr. Izumi Omura präsentieren ein Marx-Bild, das stark kontrastiert zu dem Marxbild des Marxismus, das Marx geradezu kanonisiert und gleichzeitig instrumentalisiert hat. In diesen Vorträgen wird Marx zwar auch als Klassiker des politischen und ökonomischen Denkens mit hohem wissenschaftlichen Ethos gewertet, aber zugleich auch, ausgehend vom fragmentarischen Charakter seines Werkes, in seinen Begrenzungen gesehen und problematisiert. Abgehoben wird dabei auf die Schwierigkeiten von Marx mit der ökonomischen Materie, auf das Faszinierende, aber auch auf die Schwächen und Fehler seiner Theorie. Aber gerade die Schwierigkeiten, die sich Marx stellten, werden als ausgesprochen anregend für die heutige ökonomische Theoriebildung begriffen.

Als Fazit lässt sich ziehen: Auch nach dem Zusammenbruch des Weltkommunismus lohnt es sich, sich mit Karl Marx zu befassen.


 

 

Herfried Münkler

 

Die Aktualität des Karl Marx
Marx gegen den Marxismus gelesen

 

Der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa Ende der 80er Jahre schien auch das Ende der Marxschen Theorie darzustellen. Paradigmatisch dafür war das später viel zitierte Diktum Norbert Blüms: Marx ist tot, und Jesus lebt, was wohl heißen sollte, dass sich die katholische Soziallehre als Lösung der alten wie der neuen sozialen Frage bewährt hatte, während der Marxismus gescheitert war. Inzwischen macht Norbert Blüm Werbung für kostengünstige Arzneimittel, und Marx findet nicht nur in der wissenschaftlichen, sondern auch in der politischen Diskussion neue Aufmerksamkeit.

Es ist aber nicht mehr der Marx des Marxismus und schon gar nicht der Marx der Sowjetideologie, um die Schwundstufe des Marxismus beim Namen zu nennen[1], der dieses Interesse findet, sondern der schwierige, sperrige deutsche Wissenschaftler und Intellektuelle, der mitunter zu rhetorisch brillanten, mitreißenden Formulierungen imstande war und dann wieder seine Leser durch staubtrockene, hochgradig komplizierte, nicht selten auch noch mit mathematischen Formeln durchsetzte Überlegungen quälen konnte. In diesem Sinne ist Marx für seine Leser seit jeher ein Chamäleon gewesen.

Diesen Chamäleoncharakter von Marx wird und kann der Fortgang des Erscheinens der neuen MEGA-Bände nicht tilgen, denn der liegt im Werk von Marx selbst begründet. Im Gegenteil: die verschiedenen Spielarten des Marxismus waren gerade ein Versuch, Marx’ Vielschichtigkeit zu tilgen und ihn auf einige wenige Grundüberzeugungen festzulegen. Gegen diese Vereindeutigungen hat es immer wieder Renaissancen gegeben, in denen Teile der Marxschen Theorie gegen ihre dogmatische Gestalt ins Feld geführt wurden. Die Geschichte des Marxismus, die mit Engels’ populären Darstellungen der Marxschen Theorie und den Überarbeitungen des Zweiten und Dritten Bands des "Kapitals" beginnt, ist auch eine Geschichte sich periodisch wiederholender intellektueller Rebellionen gegen die Vereinfachungen und Vereinseitigungen, die dem parteioffiziellen Marx zugefügt worden sind. Im Ergebnis haben diese Rebellionen zu einer Revitalisierung auch des Marxismus geführt, und nicht zuletzt sie haben – oft genug wider Willen – dazu beigetragen, dass sich der Marxismus als Ideologie von seinem politisch-legitimatorischen Gebrauch erholt und neuerliche Attraktivität für junge Intellektuelle gewonnen hat.

Aber mit dem Ende des offiziellen Marxismus ist auch die Geschichte dieser Rebellionen vorbei, und jedes neue Interesse an Marx wird sich nicht mehr aus dem Unbehagen am parteioffiziellen Marxismus oder dem Widerspruch der verschiedenen Linien speisen können, sondern muss aus der Beschäftigung mit Marx selber erwachsen. Ist Marx, nachdem er des Marxismus’ ledig ist, ein Klassiker der politischen Ideengeschichte geworden, also einer, an dessen Werk unterschiedliche Zeiten nicht nur neues entdecken, sondern auch Antworten auf ihre jeweiligen Fragen erhalten? Ich vermute, dass dies der Fall ist und im Hinblick darauf will ich einige Überlegungen anstellen.

Dabei ist vorwegzuschicken, dass das Marxsche Werk, wie von der kommunistischen Orthodoxie, aber auch von vielen heterodoxen Strömungen des Marxismus suggeriert, kein abgeschlossenes oder doch in sich geschlossenes System darstellt, sondern in zentralen Teilen, wie etwa der "Deutschen Ideologie" oder dem "Kapital", Fragment geblieben ist. Die Suggestion des geschlossenen Systems, das aus einem Guss gefertigt ist und auf alle Fragen Antworten bereithält, ist nicht zuletzt auch in die editorische Darbietung der Marxschen Texte eingegangen. Lücken und Auslassungen wurden getilgt und ein zusammenhängender Text geschaffen, wo im Marxschen Manuskript offene Stellen waren, die deutlich machten, dass hier noch etwas eingefügt werden sollte bzw. der Gedanke Fragment war. Hier beginnt das, was die MEGA von allen anderen Editionen unterscheidet: die auch editorische Sichtbarmachung der Offenheit der Überlegungen, des Ringens mit dem Problem, des Fragmentarischen der Antwort.

Das Offenhalten vieler Antworten, die Marx gegeben hat, die Revision von Auffassungen usw. haben grundsätzlich etwas mit seinem Ethos als Wissenschaftler zu tun, das er auch als Journalist – was ja wohl sein Beruf war, nicht nur in der rheinischen Zeit, sondern auch in London, wo er mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln einen Teil seines Lebensunterhalts bestritt – nicht aufgegeben hat.[2]

Bezeichnend für die Kommentierung des Krimkrieges etwa durch Marx (aber auch Engels) ist, dass sie – obgleich sie im Zarismus den Hort aller Reaktion in Europa erblickten – in ihrer journalistischen Berichterstattung für die "New York Tribune", die seinerzeit meistgelesene Zeitung der Welt, bemüht waren, bei den militärischen und diplomatischen Tatsachen zu bleiben und gerade nicht in die damals in Großbritannien grassierende antizarische Kreuzzugsmentalität zu verfallen.[3] Marx ist und bleibt auch in diesem Punkt ein Analytiker und hält Distanz zu den Versuchungen der Propaganda.

Von dem im realexistierenden Sozialismus immer wieder vorherrschenden Prinzip, dass gut sei, was der Sache nütze und man demgemäß mit der Wahrheit gemäß taktischer Erfordernis umzugehen habe, war Marx weit entfernt. "Einen Menschen aber", schreibt er Anfang der 1860er Jahre[4], "der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrthümlich sie immer sein mag), sondern von aussen, ihr fremden, äusserlichen Interesse entlehnten Standpunkt zu accommodiren sucht, nenne ich ‚gemein’." Und das journalistische Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer Dogmen in sachfremde Themen gar hielt Marx gar für "unsittlich". Wie auch immer: den Wahrheitsanspruch der deutschen Philosophie, an der er sich in seinen jungen Jahren abgearbeitet hatte, hat Marx nie aufgegeben, und offenbar war er zutiefst davon überzeugt, dass dieser Anspruch der gründlichen und genauen Durchdringung eines Problems als Voraussetzung seiner Lösung etwas spezifisch deutsches sei, jedenfalls etwas, was der Londoner Exilant Marx als sein besonders Mitbringsel aus Deutschland ansah. So wollte er, dass das "Kapital" nicht als politische Kampfschrift gelte, sondern als "Triumph der deutschen Wissenschaft" gesehen werde, der der ganzen deutschen (!) Nation gehöre. Weil diese Formulierung von Marx so delikat und so wenig bekannt ist, will ich sie im Zusammenhang zitieren. Am 20. Februar 1866 schreibt er an Engels: "Du verstehst, my dear fellow, daß in einem Werke wie meinem, manche shortcomings im Détail existieren müssen. Aber die Komposition, der Zusammenhang, ist ein Triumph der deutschen Wissenschaft, den ein einzelner Deutscher eingestehn kann, da es in no way sein Verdienst ist, vielmehr der Nation gehört. Dies um so erfreulicher, da es sonst die silliest nation unter dem Sonnenlicht!"[5]

Dieser bedingungslosen Orientierung an Wahrheit und der Überzeugung, dass gründliche Wissenschaft den Zusammenhang der Dinge klären könne, entspricht Marx’ notorischer Antidogmatismus, der schon in seinen Wahlspruch "De omnibus dubitandum" zum Ausdruck kommt.[6] Dass dies bei ihm nicht nur eine pure Redensart war, sondern er dies ernst nahm und daraus auch politsch-praktische Konsequenzen zog, zeigt sich immer wieder. So schreibt der junge Marx im September 1843 an Ruge: "Ich bin daher nicht dafür, daß wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, im Gegentheil. Wir müssen den Dogmatikern nachzuhelfen suchen, daß sie ihre Sätze sich klar machen."[7] Und 1868 heißt es in einem Brief an Engels: "Nur dadurch, dass man an die Stelle der conflicting dogmas die conflicting facts und die realen Gegensätze stellt, die ihren verborgnen Hintergrund bilden, kann man die politische Ökonomie in eine positive Wissenschaft verwandeln."[8]

Dieser Antidogmatismus schließlich ist aufs engste verknüpft mit einem spezifischen Begriff der Kritik, der die Marxsche wissenschaftliche Methodik durchgängig kennzeichnet: Anders als die "vulgäre Kritik", die nur in entgegengesetzten Dogmatismus verfalle, begreife die "wahrhaft philosophische Kritik […] die eigenthümliche Logik des eigenthümlichen Gegenstandes" und erkläre so die "innere Genesis" der Sachverhalte.[9] In diesem Sinn versteht Marx seine Kritik der politischen Ökonomie zugleich als "Darstellung des Systems u. durch die Darstellung [als] Kritik desselben"[10]. Es ist dies ein höchst moderner Kritikbegriff, der den Gegensatz zwischen Deskription und Präskription überwindet und dem gegenüber manche Debattenbeiträge des Positivismusstreites der 1960er Jahre recht antiquiert wirken. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an den Marxschen Ideologie-Begriff, der von ihm nicht im heute üblichen platten Sinn eingeführt wird, sondern mit dem die Selbsttäuschung sozialer Akteure über ihr eigenes Tun beschrieben wird.

Wenn also nun der Wissenschaftler und Journalist Marx gerettet werden kann gegen die, die ihn in den hier aufgeführten Eigenschaften und Einstellungen – Antidogmatismus, Orientierung an Wissenschaft als Aufklärung und zugleich Veränderung der Verhältnisse – ins Gegenteil verwandelt haben, so stellt sich die Frage, was zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht bloß das ideengeschichtlich Interessante, sondern auch politisch oder sozio-ökonomisch Aktuelle an Marx sei. Ich möchte dies kurz an drei Punkten zeigen, wobei es zunächst um die Dynamik der sozio-ökonomischen Entwicklung gehen soll, dann um Marx’ Bewusstsein der ökologischen Folgen dieser Dynamik und schließlich noch um ein tagespolitisch interessantes Problem.

Gelegentlich hat es den Anschein, als seien einige der Diagnosen von Marx erst jetzt Wirklichkeit geworden. Das gilt insbesondere für jene fast hymnische Beschreibung dessen, was die Bourgeoisie an revolutionärer Veränderung zustande gebracht hat. Liest man heute, nach dem Scheitern des Kommunismus und dem allmählichen Verschwinden des Industrieproletariats, diese Stellen, so muss man sich schon fragen, ob Marx hier nicht – gegen seine  Absicht – die Bourgeoisie – und nicht das Proletariat – als die eigentlich revolutionäre Klasse der Weltgeschichte begriffen hat. Im Kommunistischen Manifest schreiben Marx und Engels: "Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermeßliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schiffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, […]. Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.

Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.

Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird[…]."[11]

In diesem Zusammenhang erscheint die mit Goethe angereicherte Voraussage, wenn auch auf ein anderes Subjekt bezogen, für westliche Staaten gegenwärtig von geradezu beängstigender Aktualität: "die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor."[12]

Dass der Verselbständigung der "unterirdischen Gewalten" schließlich ein Aspekt der Selbstzerstörung eignet, hat Marx freilich auch gesehen und damit die ökologische Problemstellung der letzten beiden Dekaden vorweggenommen. Auf diesem Aspekt im Werk von Marx hat insbesondere Iring Fetscher wiederholt hingewiesen: die Notwendigkeit einer Bewahrung der natürlichen Grundlagen des Lebens.[13] Marx analysiert im Einzelnen die kapitalistische "Kunst, den Boden zu berauben"[14], indem er beispielsweise die "Zerstörung der Waldungen" aus deren spezifischer Produktionslogik herleitet[15]. Nach der Überzeugung von Marx vermögen deshalb nur "die associirten Producenten" ihren "Stoffwechsel mit der Natur rationell [zu] regeln"[16]. Das Projekt der assoziierten Produzenten ist vorerst, jedenfalls in seiner sozialistischen Gestalt, gescheitert. Das von Marx ausgemachte Problem ist jedoch geblieben.

Lassen Sie mich schließen mit zwei Zitaten aus Marx Essay "Zur Geschichte der orientalischen Frage", einem Problem also, das auch heute wieder oder immer noch auf der politischen Agenda steht.

Über die Heiligen Stätten des Nahen Ostens heißt es da, dass sich "hinter diesen religiösen Prügeleien nur ein weltlicher Kampf nicht nur von Nationen, sondern von Völkerschaften verbirgt, und daß das Protektorat über die Heiligen Stätten, das dem Westeuropäer so lächerlich, dem Orientalen aber so überaus wichtig erscheint, nur eine der Phasen der orientalischen Frage ist, die sich unaufhörlich erneuert, die stets vertuscht, aber nie gelöst wird"[17].

Liest man diese Passage, so könnte man meinen, Marx habe die religiöse Dimension des Problems nicht sonderlich ernst genommen und darin nur eine Erscheinungsform jener Kämpfe gesehen, die auch in Europa stattgefunden haben und sich hier nur mit einiger Verspätung wiederholen. Dann findet sich dort aber auch eine Passage, die man eher bei Samuel Huntington als bei Karl Marx vermuten würde, und die doch von ihm stammt: "Der Koran und die auf ihm fußende muselmanische Gesetzgebung reduzieren Geographie und Ethnographie der verschiedenen Völker auf die einfache und bequeme Zweiteilung in Gläubige und Ungläubige. Der Ungläubige ist der "harby", d. h. der Feind. Der Islam ächtet die Nation der Ungläubigen und schafft einen Zustand permanenter Feindschaft zwischen Muselmanen und Ungläubigen."[18] Was Marx einst über Clausewitz schrieb, wird man heute wohl über ihn selbst sagen können: "Der Kerl hat einen common sense, der an Witz grenzt."[19]


 

 

Bertram Schefold

 

"Das Kapital" Band 3: Ausgangspunkt von Wegen und Irrwegen des ökonomischen Denkens im 20. Jahrhundert

 

Der dritte Band des "Kapital" ist ein Band für Ökonomen. Hier soll gezeigt werden, dass die Arbeitswertlehre nicht nur philoso­phischen und politischen oder, wenn man es kritischer interpre­tiert, ideologischen Zwecken dient, sondern dass die Durch­schnitte der Marktpreise durch Produktionspreise, die ihrerseits aus den Arbeitswerten abgeleitet werden können, angenähert darstellbar sind – modern gesprochen, dass sich aus der Marx­schen Theorie die realen Preise von den Bedingungen der Pro­duktion her prognostizieren lassen. Von der für Marx selbst hin­ter den Erscheinungen verborgenen Mehrwertrate wird zur die wirtschaftlichen Kalkulation beherrschenden Profitrate überge­gangen, deren Bewegungen sich handgreiflich – wenn auch mit bestimmten konjunkturbedingten Verzerrungen – in den Zinssät­zen spiegelt.

So wird die agro-industrielle Produktion, für die Marx seine scharf umrissene Theorie liefert, von den Dienstleistungen abge­grenzt, denen er nur eine untergeordnete Bedeutung beimißt, und für die er keine "rationale Theorie" findet. Hier wird begrün­det, weshalb die Profitrate angeblich fällt und zu Krisen Anlass gibt, wenn nicht sogar zum Untergang des Kapitalismus. Hier wird, eine Pionierleistung im 19. Jahrhundert, der Konjunkturzy­klus beschrieben, mit seiner Akzentuierung durch eine soge­nannte Geldpanik, wenn bei stockenden Märkten den Schuld­nern Zahlungsunfähigkeit droht und die Gläubiger Kredite kündi­gen. Marx stützt sich dazu auf eine dogmenhistorisch tiefschür­fende Untersuchung der Kontroverse zwischen den Currency- und den Banking-Theoretikern. Es folgen die Theorien der Diffe­rentialrente und der interessanten, aber fragwürdigen sogenann­ten "absoluten" Rente und damit der Versuch einer Erklärung der sich verschiebenden Machtverhältnisse zwischen Landadel und Bourgeoisie. Die Entwicklung gipfelt in der Kritik der trinitarischen Formel und damit der von Marx als "Vulgärökonomie" herabge­würdigten Anfänge der neoklassischen Theorie. Der ganze Band sprüht von Ideen und ist nirgends vollendet, was sich am deut­lichsten im abschließenden Fragment über die gesellschaftlichen Klassen zeigt, wo Marx zu einer Erklärung ansetzt, was diese untereinander eint, was also beispielsweise unter den Grundei­gentümern "Fischereibesitzer", "Weinbergbesitzer" – wir könnten hinzufügen: die Besitzer städtischer Immobilien – wohl gemein­sam haben. Engels meinte, das Manuskript bräche ab, weil die Antwort leicht sei. Glauben wir das noch?

Ganz anders, vollendet nämlich, präsentiert sich der erste Band – das Bärenkind, das, wie Marx einmal sagte, er selbst zurecht ge­leckt hatte, mit seiner philosophischen Grundlegung, seinen wirtschaftshistorischen Belegen (man denke an die Geschichte des Arbeitstags), seiner Technikgeschichte (man denke an die unter dem Begriff des "relativen Mehrwerts" zusammengefassten phänomenalen Beschreibungen des Fortschreitens von Koope­ration über Arbeitsteilung zur Maschinerie), und mit seiner Zu­kunftsvision eines Zusammenbruchs im 23. Kapitel. Die treue Leser anziehende, andere abstoßende dialektische Darstellungs­weise scheint einer nachahmbaren Methode geschuldet, aber wie wenigen ist diese Nachahmung auch nur andeutungsweise gelungen! Joan Robinsons schriftlichen Äußerungen zufolge handelte es sich auch beim ersten Band um ein Amalgam ver­schiedener Probleme. Als ich sie vor 35 Jahren fragte, ob sie nicht einen Gesamtzusammenhang sehen könne, erwiderte sie jedoch, und ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab: "I have always taken it to be a work of art."

Lassen wir den zweiten Band mit seinen Kapitalverschlingungen und seiner Wachstumstheorie, die auf eine Theorie der effektiven Nachfrage vorausweist, beiseite, obwohl Paul Samuelson seine Autorität dafür einsetzt, ihn unter den Dreien zum Besten zu er­klären. Der dritte Band steht mit dem ersten in einer wesentlichen Verbindung über die Wertformenlehre, denn im Grunde ist ja seine Pointe, dass der Gewinn als umverteilter Mehrwert darge­stellt werden kann, und dass alle Einkünfte der herrschenden Klassen diesem Mehrwert entfließen. Engels hat die Aufgabe, aus verschiedenen Marxschen Manuskripten diesen dritten Band zu bilden, mit bewundernswerter Zurückhaltung seiner eigenen Vorstellungen gelöst. Er versuchte, mit einem Minimum von Ein­griffen ein lesbares Buch herzustellen, wichtige eigene Hinzufü­gungen als solche kennzeichnend und andererseits doch eine Überlastung des Textes mit Anmerkungen vermeidend, indem er nach bestem Wissen und Gewissen zahlreiche kleine Verbesse­rungen einstreute und dabei alles von Marx hinterlassene Mate­rial sinnvoll zu verwenden trachtete. Freilich hat er auf diese Wei­se keines der großen Rätsel, die den dritten Band und das Marx­sche Werk überhaupt so schwierig und problematisch machen, lösen können. Im Gegenteil hat er im Bestreben, möglichst we­nig wegzulassen, die Lektüre durch Hinzufügung von Material, das eigentlich Exzerptmaterial war, erschwert und den Gedan­kengang, der vom ersten Band zum dritten über die Analyse des Formwandels von Kapital und Mehrwert führt, teilweise verdeckt, so daß man das Gefühl haben kann, es mit einem enzyklopädi­schen Lehrbuch zu tun zu haben, das dann auch manches Technische, beispielsweise über das Bankwesen, enthalten muss, wo Marx nur seine wesentlichen Hypothesen illustrieren wollte.

Es war deshalb ein Ereignis für die Marxforschung, als das Marx­sche Hauptmanuskript, 1863–1865 geschrieben, in der neuen MEGA im Band II/4.2 publiziert wurde und uns den freien Blick auf den ursprünglichen Fluss der Marxschen Argumentation er­öffnete. Herausgeberisch stellt der neue Band allerdings eine noch bedeutendere Leistung dar, weil nun sichtbar wird, wie En­gels aus vier weiteren Manuskripten Fragmente einschleuste, wie er in bedeutendem Umfang Textumstellungen vornahm, Exkurse und Fußnoten in einen dazu ausgedehnten Haupttext übertrug und die Gliederung wesentlich umgestaltete, oft in glücklichen Formulierungen, manchmal freilich auch in missratenen. So spricht Marx gleich zu Beginn von der "Verwandlung von Mehr­werth in Profit". Engels macht daraus "Die Verwandlung des Mehrwerths in Profit und der Rate des Mehrwerths in Profitrate". Den Formwechsel von Mehrwert in Profit darzustellen ist das wesentliche Ziel von Marx – das hätte das einheitsstiftende Moment dieses Bandes werden sollen, so wie die Ausbeutung das des ersten –, aber eine Verwandlung der Mehrwertrate in die Profitrate ist sinnlos. Bei der Benutzung des Apparats findet man schnell Beispiele für die taktvollen Hinzufügungen von Engels, die er nicht kennzeichnete, zum Beispiel das folgende (S. 497 bzw. S. 980): Marx zeigt, viele Zahlen anführend, dass der Kon­junkturzyklus sich aus der Ausfuhrstatistik ablesen läßt und dass dabei Konjunktur und Wachstum sich überlagern, indem der künftige Abschwung nicht tiefer geht als der Höhepunkt des vo­rigen Aufschwungs. Das fasst Engels konzise zusammen, so dass die Lektüre der von Marx angeführten Statistiken erträglich wird. Der Gedanke wird nicht gekennzeichnet, weil Engels überzeugt ist, Marx genau getroffen zu haben. Auf derselben Seite kenn­zeichnet er jedoch mit seinen Initialen eine Hinzufügung, die ei­nem eigenen Gedanken entspringt. Wesentliche Deutungen der Wirtschaftsentwicklung, die auf das letzte Drittel des 19. Jahr­hunderts verweisen, hat er in Betrachtung der Börse, aber auch der Landrente hinzugefügt. Was im Einzelnen geschah, wissen wir erst jetzt.

Als Dogmenhistoriker könnte ich versuchen zu zeigen, von wel­chen Autoren die Marxschen Gedanken herstammen, aber ich glaube, der Aufgabe des heutigen Tages eher gerecht zu wer­den, wenn ich mich zu der komplexen Wirkungsgeschichte des dritten Bandes äußere.

Gewiss hat auch Band III in die Irre geführt, historisch folgenreich vor allem, indem er half, oder dazu in Anspruch genommen wurde, den Bolschewismus wissenschaftlich zu legitimieren und die russische Revolution vorzubereiten, die doch mit dem Gang, den die Geschichte dann nahm, ins Unheil führte. Immerhin bietet unser Wissen von der Entstehung des Bandes auch die Andeutung zu einer anderen denkmöglichen historischen Ent­wicklung. Marx versuchte bekanntlich, die im dritten Band lang­fädig wirkenden Entwicklungen zur Rententheorie durch Illustra­tionen aus Russland interessanter zu gestalten. Aus der Fortsetzung der MEGA muss sich ergeben, ob sich der Hinweis im Entwurf des Briefes an Sassulitsch bestätigt, wonach er sich für die Kooperation in der russischen Dorfgemeinde interessierte und vielleicht in einer – vorübergehenden (?) Phase seines Den­kens – einen Weg zu einer russischen Entwicklung weisen woll­te, der nicht über die Entfaltung kapitalistischen Großgrundbe­sitzes und dessen Liquidierung und Zwangskollektivierung durch einen Stalin hätte führen sollen, sondern zu einer – ich drücke mich wohlmeinend vorsichtig aus – genossenschaftlichen Mo­dernisierung. Andere Irrwege verbanden sich meines Erachtens mit der Frankfurter Schule und der Studentenrevolte, die den ökonomischen Diskurs aus dem dritten Band ohne eine hin­reichend kritische Haltung übernahmen und ihre Gesellschafts­kritik auf ein angeblich im wesentlichen gesichertes ökonomi­sches Fundament aufsetzten.

Aber lassen Sie mich lieber über Positives sprechen. Aus der Diskussion der inneren Schwierigkeiten der Marxschen Theorie gingen auch bedeutende und oft unterschätzte Anstöße für die moderne ökonomische Theoriebildung hervor. In meiner Einlei­tung zur Neuausgabe des dritten Bandes habe ich vor allem das Transformationsproblem behandelt. Ist es möglich, die Produkti­onspreise auf der Grundlage einer allgemeinen Profitrate aus den Arbeitswerten abzuleiten und zwar so, dass sich der Gewinn als umverteilter Mehrwert interpretieren lässt, dass also die Aggregate von Preisen und Werten sich entsprechen und zugleich die Ag­gregate der Mehrwerte und der Gewinne? Die Debatte darüber begann schon vor der Publikation des dritten Bandes und führte auf verschlungenen Wegen zu einem Zweig der modernen Preistheorie, der sich mit den Namen von Sraffa und des be­rühmten Mathematikers von Neumann verbindet. Diese Preis­theorie ist technisch schwierig, aber noch schwieriger und inhalt­lich wesentlicher ist die Abgrenzung derjenigen Theoriebestand­teile aus dem großen Corpus des dritten Bandes, die weitergelten auch nach der Behebung dessen, was Sraffa ge­sprächsweise den "sbaglio aritmetico in Marx", den Rechenfehler bei Marx also, nannte. Nach langen Debatten dürfte klar sein, dass der Rechenfehler nur vermieden wird, wenn die Berechnung der Arbeitswerte und der Produktionspreise gemeinsam auf ein Drittes, die Gebrauchswertstruktur, zurückgeführt wird, dass also zur Berechnung der Preise die Werte nicht erfordert werden, und schließlich, dass sich der Gewinn auch nicht als umverteilter Mehrwert darstellen läßt, wie Marx sich das dachte. Viele schma­lere und kürzere Irrwege entsprangen dem einen großen. Alle möglichen Konstruktionen wurden versucht, um Marx zu "ret­ten", indem man beispielsweise so weit ging, die Tendenz zum Ausgleich der Profitraten überhaupt zu leugnen, damit die Preise gleich den Arbeitswerten sein sollten (Helmedag).

Doch zuletzt hat die Diskussion über das Transformationspro­blem zur Entwicklung einer modernen Preistheorie beigetragen. Ebenso hat die Auseinandersetzung um die These von der fal­lenden Profitrate den Weg zur modernen Wachstumstheorie ge­ebnet. Der empirische Befund besagt, dass die Profitrate und das Verhältnis der Löhne zu den Gewinnen sich im 20. Jahrhundert nur wenig änderten. Aus der These vom tendenziellen Fall der Profitrate wurde ein neues Forschungsprogramm: Zu erklären, weshalb die Profitrate im langfristigen historischen Durchschnitt, soweit sich diese Größe überhaupt sinnvoll messen lässt, im we­sentlichen stabil blieb. Joan Robinson und Kaldor versuchten in Cambridge, hierauf im Rahmen keynesianischer Wachstums­theorien eine Antwort zu geben; eine andere Antwort kam von der neoklassischen Seite.

Keynes gilt heute vielen als überholt. Aber auch von ihm gingen Bruchstücke der Theorie ins aktuelle Lehrgebäude ein, und viele Fragestellungen können ohne die von ihm und seinen Schülern gebildeten Kategorien nicht einmal ordentlich formuliert werden. Die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wurde von ihm wesentlich angeregt, die Geldtheorie bleibt von ihm beeinflusst – denken wir nur an die Liquiditätsfalle, mit der Japans an Stagnation grenzendes Wachstum im letzten Jahr­zehnt erklärt wird – und schließlich haben wir heute offenkundig einen Mangel an effektiver Nachfrage, der nur leider durch keynesianische Wirtschaftspolitik nicht überwunden werden kann, weil schon lange bis an die Grenzen des Verantwortbaren quasi-keynesianische Wirtschaftspolitik betrieben wird – man denke nur an die gewaltigen Transfers, die in Deutschland vom Westen nach Osten fließen – so viele Ausgaben, die heute getä­tigt werden und die der Beschäftigung dienen sollen, auch wenn andere Zwecke meist zuerst genannt werden, wie es heute gibt, hätte Keynes selbst vielleicht gar nie zu fordern gewagt.

Unter allen Vorläufern von Keynes, die seine Theorie in ihren we­sentlichen Teilen vor ihm entwickelt hatten, bleibt Kalecki trotz dogmenhistorischen Einwendungen, die unter anderem von Sa­muelson erhoben worden sind, wohl der bedeutendste. Und es kann kein Zweifel bestehen, dass Kalecki diese Vorwegnahme auf der Grundlage einer scharfsichtigen, sachlichen, allen ideologi­schen Ballast abschüttelnden Marxlektüre gelang. Seine Fas­sung der keynesianischen Gedanken hat unabhängig weiterge­wirkt und die Cambridger Schule beeinflusst. Aber diese schöpfe­rische Anknüpfung an Marx blieb nicht auf England beschränkt. Man könnte amerikanische Namen nennen, wie Minsky. Ein breiter Übergang zwischen einer Marx auch politisch naheste­henden akademischen Intelligenz und der neoklassischen Schu­le entstand beispielsweise in Italien, woraus wichtige ökonomi­sche Ansätze hervorgingen wie die von Sylos Labini, Pasinetti oder Garegnani. Auch in Japan gab und gibt es bedeutende Autoren, die aus einer Zwischenposition zwischen einem mehr dogmatisch aufgefassten Marx und der modernen mathemati­schen und insbesondere neoklassischen Ökonomie bedeutende Beiträge geleistet haben, wie Tsuru, Okishio und Morishima.

Allen von diesen Autoren geführten Debatten ist gemeinsam, dass Marx nicht einseitig als Steinbruch verwendet wird, dem ein­zelne Ideen entnommen werden, um neue Theorien zu entwickeln, so nützlich diese Beschäftigung sein mag, sondern es gibt auch die umgekehrte Tendenz, andere Theorien (wie die keynes­ianische oder neoklassische) mit von Marx her entwickelten In­strumenten in Frage zu stellen. Dabei hat sich ein merkwürdiges Resultat ergeben, das zu heute fortlaufenden Diskussionen führte. Die neoklassische Theorie operiert in der sogenannten Grenzproduktivitätstheorie oft mit einem Aggregat von Kapital so­wohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite, wo­durch der Preis des Kapitals, hier als Zins interpretiert, bestimmt werden soll. Um ein solches Aggregat zur Bestimmung des Zinssatzes bilden zu können, muss es selbst von der Höhe des Zinssatzes unabhängig sein. Diese Voraussetzung zu machen bedeutet, für das Aggregat der Kapitalgüter vom Einfluss von Än­derungen des Zinssatzes auf die Kapitalgüterpreise abzusehen. Eine solche Abstraktion läuft eigentlich, wie sich genauer zeigen lässt, auf einen sehr ähnlichen Fehler hinaus wie den, der von Marx begangen wird, wenn er beim Transformationsproblem davon ausgeht, dass für die Aggregate Werte und Preise über­einstimmen, die Aggregate also unabhängig von Veränderungen der durch den Zinssatz ausgedrückten Einkommensverteilung sind.

Wir sollten uns also nicht zu sehr überheben, wenn wir uns auf die Schultern von Riesen stellen, sei der Riese nun Marx oder ei­ner seiner bedeutenden Gegner. Über hundert Jahre nach der Publikation des dritten Bandes fährt dieser fort, Leser zu faszi­nieren, auch die heutigen Studenten der Wirtschaftswissen­schaften, die in meinen dogmenhistorischen Vorlesungen oft besser aufpassen, wenn Marx genannt und seine Theorie dar­gestellt wird, als wenn ich die Schöpfer anderer Theorien behan­dele. Schumpeter hat früher Marx für seine Vision bewundert, und Samuelson wundert sich noch heute, weshalb Schumpeter darin Recht hatte. Seine ihm eigentümliche Denkweise ließ es zu, dass er über Methodenprobleme der modernen Mathematik während seiner Krankheiten interessante Gedanken entwickelte, dass er Zahlenbeispiele akkurat und pedantisch durchrechnete und doch den "sbaglio aritmetico", den Rechenfehler beging, weil er nun gerade mit der für die Entwicklung einer modernen Preistheorie nötigen sogenannten linearen Algebra nicht zurecht kam. Ein Indiz dafür (das wir aber nicht zu ernst nehmen sollten) findet sich in seiner Abiturprüfung in Mathematik. Respektlos wie die moderne Forschung vorgeht, hat sie aufgedeckt, dass der ja selbst nicht immer respektvolle Marx in der schriftlichen Abitur­prüfung nicht so glänzte, wie man erwartete. Zwar löste er eine geometrische Aufgabe auf interessante Weise anders, als der Lehrer vorgesehen hatte, doch verlor er mit diesem Exkurs so viel Zeit, dass er die Aufgabe in linearer Algebra (es waren lineare Gleichungen zu lösen) in der Eile lieber abschrieb, und zwar von seinem zukünftigen Schwager Edgar von Westphalen, dem jüng­sten Bruder seiner künftigen Gattin Jenny – nicht zu verwechseln mit deren Halbbruder Ferdinand von Westphalen, dem späteren Innenminister, der dem erwachsenen Marx erhebliche Schwierig­keiten bereiten sollte.

Wie kann uns eine Theorie trotz Mängeln faszinieren? Vielleicht sind Theorien wie Fernrohre, mit denen wir uns nicht erreichbare Gestirne betrachten. Die Fernrohre bestehen aus Linsensyste­men. Die einzelnen Theoretiker schleifen die Linsen und ordnen sie immer neu an, um bessere Fernrohre zu erhalten. Aber leider sind weder die Anordnungen noch die Linsen vollkommen. So sehen wir durch das eine Fernrohr das eine Gestirn schärfer, mit farbigen Rändern, das andere Fernrohr stört weniger mit Farbef­fekten, bildet aber verschwommener ab, und die Sternengucker blicken durch ein Rohr nach dem anderen, um sich wenigstens durch den Vergleich ein besseres Bild von einer fernen Welt zu machen. In der neuen Ausgabe der MEGA kommt ein altes Fernrohr neu adjustiert daher; neue oder wenigstens verbesserte Entdeckungen stehen also bevor.


 

 

Izumi Omura

 

Der Beitrag japanischer Wissenschaftler zur Fertigstellung der MEGA

 

Obwohl Marx eine erstaunliche Phantasie besaß, so hätte er sich wohl doch nicht vorstellen können, daß bedeutende Fragmente seines ökonomischen Hauptwerkes einmal von japanischen Wissenschaftlern erforscht und für den Druck vorbereitet werden würden. Andererseits aber schrieb er hier in Bonn bereits 1842 in seinen Exzerpten das erste Mal über die "Japaneser"[1].

Die MEGA ist ganz wesentlich ein Produkt internationaler Forschungs­­kooperation, vor allem der deutsch-japanisch-russischen Zusammenarbeit.

Wie andere Klassiker der Sozialwissen­schaften hat Marx sein ökonomisches Hauptwerk nicht vollenden können. Wie Sie wissen hat er lediglich den ersten Band des "Kapitals" publiziert. Den zweiten und dritten Band hat Engels aus dem umfangreichen Manuskriptmaterial des Nachlasses herausgegeben. Aus diesem Grunde ist die Authentizität des "Kapitals" bis heute strittig. In der II. Abteilung der MEGA werden alle Text- und Manuskriptfassungen erstmals historisch-kritisch rekonstruiert. Von fünfzehn Bänden sind bereits zwölf erschienen. Die noch ausstehenden Bände werden von einem internatio­na­len Forschungsnetzwerk bearbeitet. Diesem Netzwerk gehören

– die Friedrich-Ebert-Stiftung,

– die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften,

– das Internationale Institut für Sozialgeschichte Amsterdam,

– das Rußlän­di­sche Staatliche Archiv für Sozial- und Politikgeschichte Moskau,

– die Tohoku Universität Sendai,

– die Hosei Universität Tokio sowie weitere japanische Universitäten an.

Als erstes Ergebnis der internationalen Zusammenarbeit erscheint 2005 der Band II/ 12. Er wurde an der Tohoku Universität Sendai bearbeitet und enthält das Redaktionsmanuskript von Engels zum zweiten Buch des "Kapitals" – "Der Zirkulationsprozeß des Kapitals". Das Manuskript ist zwischen Juni 1884 und Februar 1885 entstanden. Es stellt das Bindeglied zwischen den Manuskripten aus dem Nachlass von Marx und der von Engels bearbeiteten Druckversion des Werkes dar, die vor 120 Jahren 1885 in Hamburg veröffentlicht wurde. Engels hat Marx diesen Freundesdienst im Pensionärsalter von 65 Jahren erwiesen. Dabei half ihm zeitweilig Oscar Eisengarten. Der siebenundzwanzigjährige Schriftsetzer und Sozialdemokrat aus Halle an der Saale war wegen Bismarcks Sozialistengesetz nach London emigriert. Engels, dessen Sehkraft rapide abnahm, diktierte Eisengarten zunächst die schwer entzifferbaren Ausarbeitungen von Marx.[2] 

Das in einem komplizierten Arbeitsprozess in mehreren Stufen entstandene Redaktionsmanuskript beruht auf sieben von insgesamt zehn Manuskriptentwürfen von Marx. In unserer Edition wird rekonstruiert, wie Engels die Manuskripte und Entwürfe von Marx bearbeitet und gegliedert hat.

In Provenienzverzeichnissen werden ca. 5000 Textveränderungen dokumentiert. Erlauben Sie mir, ein Beispiel anzuführen: Besonders interessant dürften terminologische Unterschiede zwischen Marx und Engels sein: Dies gilt besonders für den Gebrauch des Terminus "Cirkulationskapital" – das Schlüsselwort aus dem zweiten Abschnitt "Der Umschlag des Kapitals". Es subsumiert die zwei Kapitalformen, die das Kapital sich in der Zirkulationsphase aneignet, nämlich Geldkapital, und Warenkapital, und bildet somit einen Gegenbegriff zu der Kapitalform, die das Kapital in der Produktionsphase annimmt, nämlich produktives Kapital.

Der Schlüsselbegriff "Cirkulationskapital" geht eindeutig auf Engels zurück. Er gebraucht ihn im Redaktionsmanuskript an zehn Stellen. Bei Marx suchen wir ihn vergebens. Im Unterschied zu Engels benutzte Marx den Begriff "circulirendes Capital" und gebrauchte ihn in vier verschiedenen Bedeutungen. Offenbar favorisierte Engels den Begriff "Circulationskapital", um Missverständnisse zu vermeiden, die sich aus der mehrfachen Konnotation des Terminus "circulirendes Capital" ergeben. Engels hat den Begriff "Cirkulationskapital" nicht zuletzt auch deshalb eingeführt, um den zentralen Punkt der Ökonomie-Kritik von Marx deutlicher hervortreten zu lassen.

Erlauben Sie ein vorläufiges Fazit: Erst, wenn alle von Marx überlieferten und von Engels bearbeiteten Entwürfe und Manuskripte zum "Kapital" in der MEGA historisch-kritisch ediert sind, kann festgestellt werden, inwieweit Engels den Text von Marx über das in der Druckfassung von 1885 Sichtbare hinaus veränderte, wo er eigene Akzente setzte und wie stark der Antrieb war, nicht nur als literarischer, sondern auch als politischer Nachlaßverwalter zu wirken.

Es erfüllt mich und meine Kollegen in Kioto, Sendai und Tokio mit Freude und Genugtuung, daß wir heute in der Stadt, in der Marx seine wissenschaftliche Karriere begonnen hat, den 50. Band unseres internationalen Projektes vorstellen können. Und ich kann Ihnen versichern, dass wir, vielleicht auch mit ein wenig "Toyota-Management", im Herbst im Rahmen des "Deutschen Jahres" in Japan als 51. Band das Ihnen vorgestellte Redaktionsmanuskript von Engels zum zweiten Band des "Kapitals" präsentieren werden.


[1] Siehe Karl Marx: Exzerpte zur Geschichte der Kunst und Religion (Bonner Hefte). In: MEGA IV/2. S. 362. Es handelt sich um Auszüge aus Benjamin Constant: De la religion, considérée dans sa source, ses formes et ses développements. T. 1.2. éd. Paris 1826.

[2] Zur Biographie Eisengartens siehe Keizo Hayasaka: Oscar Eisengarten – Eine Lebensskizze. Sein Beitrag zur Redaktion von Band II des Kapital. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Hamburg. Jg. 2001. S.   83–110.

 



[1] Vgl. hierzu nach wie vor Iring Fetscher: Von Marx zur Sowjetideologie (1956). 22., überarb. Aufl. Frankfurt / Main 1987.

[2]  Zu Marx’ Einkommensverhältnissen und seiner wirtschaftlichen Lage in London sowie seiner journalistischen Tätigkeit während dieser Zeit vgl. Francis Wheen: Karl Marx. Aus dem Englischen übertragen von Helmut Ettinger. München 2001. S. 215ff.

[3] Siehe MEGA I/14. S. 869f.

[4] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript 1861–1863) Teil 3. In: MEGA II/3.3. S. 771 (Theorien über den Mehrwert. Heft XI). Vgl. dazu auch Willi Winkler: Der Aufrührer. Karl Marx – ein früher Verfechter rücksichtsloser Kritik und Recherche, um politische Zustände zu ‚unterwühlen‘. In: Süddeutsche Zeitung. München,  27. Januar 2003.

[5]  MEW. Bd. 31. S. 183.

[6]  Dieser Wahlspruch findet sich in Marx’ "Bekenntnissen", die er für ein Album seiner Tochter Jenny geschrieben hat. Sie sind abgedruckt in Iring Fetscher: Marx. Freiburg [u. a.] 1999. S. 149f.

[7] Briefe aus den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern". In: MEGA I/ 2. S. 487f (M. an R. Kreuznach, im September 1843).

[8] Marx an Engels, 10. Oktober 1868. In: MEW. Bd. 32. S. 181.

[9] MEGA I/2. S. 100f. (MEW. Bd. 1. S. 296).

[10] Marx an Lassalle, 22. Februar 1858. In: MEGA III/9. S. 72 (MEW. Bd. 29. S. 550).

[11] Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW. Bd. 4. S. 463–466.

[12] Ebenda. S. 467.

[13] Iring Fetscher: Fortschrittsglauben und Ökologie im Denken von Marx und Engels. In: Derselbe: Vom Wohlfahrtsstaat zur neuen Lebensqualität. Die Herausforderungen des demokratischen Sozialismus. Köln 1982. S. 167–189.

[14] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Erster Band, Hamburg 1890. In: MEGA II/10. S. 455 (MEW. Bd. 23. S. 529).

[15] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band. In: MEW. Bd. 24. S. 247.

[16] Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, Hamburg 1894. In: MEGA II/15. S. 795 (MEW. Bd. 25. S. 828).

[17] Karl Marx: [Die Kriegserklärung – Zur Geschichte der orientalischen Frage]. In: MEW. Bd. 10. S. 176 (MEGA I/13. S. 157).

[18] Ebenda. S. 170 (MEGA I/13. S. 151/152).

[19] Marx an Engels, 11. Januar 1858. In: MEGA III/9. S. 18 (MEW. Bd. 29. S. 256).